Sind Burgdorf und Lützelflüh lohnende Reiseziele für einen ganztägigen Kulturausflug?
Das fragen sich wohl einige. Jedenfalls nehmen weniger Interessierte an unserem Ausflug teil als am Rundgang durch Basel zwei Wochen zuvor.
Unsere Antwort auf die anfängliche Frage lautet trotzdem: jawohl, zweifellos.
Baedekers Führer Schweiz, der Guide Michelin Suisse, und das Handbuch Svizzera des Touring Club Italiano erwähnen drei Sehenswürdigkeiten in Burgdorf: das Schloss, die Stadtkirche, das Museum Gertsch. Noch nicht allen bekannt ist das alte Schlachthaus mit der permanenten Ausstellung des Eisenplastikers Bernhard Luginbühl.
Unser Rundgang beginnt beim Stadtplan gegenüber dem Bahnhof. Auf dem Plan ist ersichtlich, dass es in Burgdorf nicht eine Altstadt gibt wie anderswo, sondern, klar voneinander abgetrennt, die untere Altstadt und die obere Altstadt.
Marianne, die Burgdorferin, verteilt den Ankommenden gleich einen Stadtplan. Sie macht auf verschiedene Gaststätten aufmerksam, die sich für die Mittagspause empfehlen, und führt uns in die kleine Hunyadigasse, wo sich eine Papeterie im Gebäude mit den Anschriften «Kleines Theater» und «Cinema Palace» eingenistet hat. Sie bringt uns dann zur ruhigen Parkanalage mit dem Ententeich, unterhalb des renovierten Sandsteingebäudes, früherer Sitz einer Ersparniskasse. Hier gibt es eine Einführung zu Burgdorf.
Die Stadt liegt am Ausgang des Emmentals, flussaufwärts Hügelland, flussabwärts fliesst die Emme weiter durch flaches Land, durch das untere Emmental.
Mit etwa 16,400 Einwohnern ist die Stadt eher klein, sie steht nach ihrer Einwohnerzahl an sechster Stelle im Kanton, nach Bern, Biel, Thun, Köniz und Ostermundigen und vor Steffisburg, Langenthal und Lyss.
Eine kleine Stadt muss dafür sorgen, dass man sie nicht vergisst.
In den 1850-er Jahren sorgte Burgdorf für einen Anschluss an die neue Centralbahn, indem die Stadt die Brücke über die Emme und den Tunnel auf der Strecke nach Wynigen finanzierte. Die Bahngesellschaft hätte die Bahnlinie sonst über Kirchberg gebaut, durch die Ebene, in der später die Autobahn und die Schnellbahnstrecke gebaut wurden.
Industrien haben früh dafür gesorgt, dass die Stadt nicht vergessen wird. Im obersten Stock des Schlosses zeigt die Ausstellung Burgdorfs Industriegeschichte.
In Burgdorf wurden im 18. Jahrhundert Kanonenrohre ausgebohrt, so schossen sie präziser, die Kanonen verkauften sich auch im Ausland. Im 19. Jahrhundert wurde eine Bleiweiss- und Farbenfabrik eröffnet, später die Fabrik für Motormäher und andere landwirtschaftliche Maschinen, die im steilen Gelände benützt werden können. Und seit dreissig Jahren produziert man in und um Burgdorf Injektions- und Infusionssystemen für die Selbstmedikation, die sich auf dem Weltmarkt behaupten. Die Geschichte der Stadt wird nicht von Königen oder Bischöfen geprägt, nicht von Sängern oder Dichtern, sondern von Unternehmern.
Marianne bringt uns dann zum Museum Franz Gertsch, dessen Bau grösstenteils von einem solchen Unternehmer finanziert worden ist. Sie führt uns weiter durch die Gassen der unteren Altstadt, wo sich entlang der Bäche Mühlen und andere Industrien entwickelt haben, bis zum ehemaligen Spittel der Barfüssermönche, das später als Schlachthaus gedient hat, und in dem heute die Werke des Künstlers Bernhard Luginbühl (1929-2011) ausgestellt sind, vor allem Eisenplastiken, aber nicht nur. Die weissen Keramikplättchen in der ehemaligen Kapelle bezeichnen den Ort, an dem früher Kutteln geputzt wurden.
Luginbühl, ein Freund von Jean Tinguely, liebte das Rohe und taufte seinen ersten Sohn wohl nicht zufällig auf den Namen Brutus. Er wurde nicht nur durch seine Eisenkonstruktionen bekannt (eine steht auf dem Berner Bahnhofplatz), sondern auch durch spektakuläre Verbrennungsaktionen von monumentalen Holzplastiken – die Videos sieht man im Museum.
Am Schlachthaus selbst wurde bei der Umwandlung zum Museum wenig verändert. Der Ort des Grauens verstärkt das Gruselige der Kunst und umgekehrt. So passt hier alles zusammen.
Von der Unterstadt lenkt Marianne uns dann in die Oberstadt, vorbei am renovierten Stadthaus und dem Stadtwappen, zu dem nicht nur die Farben schwarz und weiss gehören, sondern als obligatorischer Bestandteil auch die goldene Umrahmung. Von dort gehen wir weiter zum Gerechtigkeitsbrunnen, zum samstäglichen Markt, durch die Marktlaube und weiter zur Kirche.
Auf dem ruhigen Platz vor der Kirche bietet sich die Gelegenheit zu einigen Bemerkungen zur Stadtgeschichte.
Ich beginne mit Bekanntem. Die meisten Zeitgenossen wissen, dass die Franzosen 1798 in die Schweiz einmarschiert sind, dass die République helvétique une et indivisible entstand, ein Einheitsstaat mit einer ersten Verfassung, aber ohne Kantone, dass dieses Konstrukt nicht lange funktionierte, dass Napoleon beim Verhandeln zwischen den zerstrittenen Kantonen half und 1803 die Mediationsverfassung in Kraft trat. Bekannt ist auch, dass Napoleons Russlandfeldzug für ihn und seine Truppen ein Desaster wurde, dass Frankreich den Krieg in Europa schliesslich verlor, und dass 1814 und 1815 der Wiener Kongress stattfand mit dem Ziel, Europa wieder nach altem Muster zu ordnen.
Weniger bekannt ist wohl, dass am 23. Dezember 1813 österreichische Truppen in Bern einmarschierten, dass die Behörden die Verfassung für aufgehoben erklärten und die Macht an die «rechtmässigen Landesherrn» zurückgaben, also an diejenigen Mitglieder des Grossen Rats von 1798, die Ende 1813 noch lebten.
Ich versuchte, den Teilnehmern des Rundgangs einen Überblick zu geben über die politischen Entwicklungen im Kanton Bern zwischen 1813 und 1831, aber den will ich hier nicht wiederholen und vor allem nicht noch weiter zusammenfassen. Stattdessen empfehle ich die gut lesbaren Kapitel über diese Zeit im Standardwerk «Geschichte des Kantons Bern seit 1798» des Historikers Beat Juncker. Den Text findet man auch online.
Nur so viel: ab 1814 waren in der Stadt und Republik Bern wieder die stadtbernischen Patrizier an der Macht wie vor dem Einmarsch der Franzosen. Eine Verfassung gab es nicht mehr, rechtliche Grundlage der Herrschaft war eine kurze «Urkundliche Erklärung des Grossen Raths von Bern» vom 21. September 1815. Der Staat bemühte sich zwar um eine beschränkte Beteiligung von Vertretern der ländlichen Gebiete an der Verwaltung des Staats, aber die Patrizier planten keinen Übergang zu demokratischen Verhältnissen oder zu einem modernen Rechtsstaat.
Drei bestens vernetzte Brüder aus Burgdorf, die drei Gebrüder Schnell, führten die Bewegung an, die 1830 und 1831 die Patrizierherrschaft im Staat Bern beendeten. Sie formulierten und verbreiteten die wichtigsten politischen Forderungen, die zur Abdankung der Machthaber führten, und beteiligten sich an der Redaktion einer neuen Verfassung, die Ende Juli 1831 in der Volksabstimmung angenommen wurde. Die Stadt Burgdorf mit ihren Zeitungen wurde dank ihnen während einiger Jahre das Zentrum der Demokratiebewegung.
Dreissig Jahre früher, von 1799 bis 1804, wirkte der Erzieher Heinrich Pestalozzi in Burgdorf, zuerst in der Unterstadt, dann im Schloss, und entwickelte dabei seine pädagogische Methode. Nach seinem vierbändigen Roman «Lienhard und Gertrud» war Pestalozzi, der sich von den Gedanken des Genfers Jean-Jacques Rousseau inspirieren liess, in ganz Europa bekannt. Die revolutionäre französische Nationalversammlung verlieh ihm 1792 das Ehrenbürgerrecht, und Pestalozzis Schule in Burgdorf wurde von aufklärerischen Geistern aus dem In- und Ausland besucht, denn Erziehung und elementare Bildung der Bevölkerung waren für das beginnende demokratische Zeitalter von zentraler politischer Bedeutung. Gefördert wurde Pestalozzi von Mitgliedern der liberalen Familie Schnell. In Burgdorf schrieb Pestalozzi das Buch «Wie Gertrud ihre Kinder lehrt» (veröffentlicht 1801).
Zeitgenosse der Gebrüder Schnell war Johann August Sutter, der seine Tuch- und Kurzwarenhandlung in Burgdorf 1834 in den Konkurs führte, nach Amerika auswanderte, im Jahr 1839 die Bucht von San Francisco erreichte und vom mexikanischen Gouverneur eine Gebiet von etwa 200 Quadratkilometern als Konzession erhielt, auf der er die kalifornische Hauptstadt Sacramento und eine Kolonie mit dem Namen Neu-Helvetien gründete, ein Fort errichtete und am Genozid an der einheimischen Bevölkerung mitwirkte. 1848 wurde auf seinem Land Gold gefunden, es kam zum «Gold Rush». Die Situation auf seinen Besitzungen wurde dadurch unkontrollierbar. Bis zu seinem Lebensende kämpfte Sutter erfolglos um Kompensationen des amerikanischen Staates.
In der Burgdorfer Stadtkirche fällt vor allem der spätgotische Lettner auf, der nach der Reformation als Orgelempore verwendet wird, und die geschnitzten Sitze an den Seitenwänden.
Marianne erzählt der Gruppe dann, was in der Kirche am Festtag der «Solennität» geschieht, der jährlich am letzten Montag des Monats Juni stattfindet – ausgenommen 2020, wegen der Pandemie. Beim Abstieg in die moderne Unterstadt weist sie die Gruppe hin auf eine sehenswerte Fabrikantenvilla. Marianne fühlt sich wohl in ihrer Stadt, das spürt man beim Rundgang durch Burgdorf.
Die Gruppe löst sich nach dem Rundgang auf in Untergruppen, die die Museen besichtigen, weiter in der Stadt herumspazieren und zu Mittag essen. Es herrscht dazu sonniges, aber nicht zu heisses Wetter mit klarster Fernsicht.
Mit Marianne sehen wir uns im Museum Franz Gertsch die grossformatigen Bilder aus den 1970-er Jahren an, die bis anfangs Oktober ausgestellt sind. Die Fotografien, die Gertsch als Ausgangspunkt für seine Gemälde gewählt hat, hätten es wohl in den 1970-er Jahren nicht alle in ein durchschnittliches Fotoalbum geschafft. Man sieht Künstlerkollegen von hinten, ohne Gesichter. Oder Frau und Kinder beim Picknick – der Kopf eines Kindes nur zur Hälfte auf dem Bild. Trotzdem haben die Gemälde etwas Faszinierendes in ihrer Farbigkeit und in ihrer Machart. Im grosszügigen Museumsgebäude kommen sie gut zur Geltung.
Das Schloss mit seinen Sammlungen, Präsentationen und seinem Rittersaal, das alte Schlachthaus, das Museum Gertsch: alle drei seien hier zum Besuch empfohlen.
Nach einer kurzen Zugfahrt erreichen wir Lützelflüh, das Dorf, in dem der Pfarrer Albert Bitzius (1797-1854) zum Schriftsteller Jeremias Gotthelf wurde.
Um Bitzius zu verstehen, sollte man sich nochmals die beginnenden 1830-er Jahre vergegenwärtigen. Bitzius war anfänglich ein aktiver Unterstützer der demokratischen Umwälzung von 1830/31. Als Pfarrer wandte er sich aber in späteren Jahren gegen die Radikalität der Liberalen, die mit ihren Freischarenzügen dazu beitrugen, dass es zum Sonderbundskrieg von 1847 kam.
Als Pfarrer war Bitzius nicht besonders erfolgreich. Er hatte Mühe mit dem mündlichen Ausdruck, seine Predigten waren nicht sehr verständlich, die Kirche blieb am Sonntag halb leer. Bitzius stellte auch fest, dass die Menschen sich in ihrem Verhalten nicht von der christlichen Lehre leiten liessen.
Das Schreiben hatte für Bitzius deswegen vor allem ein pädagogisches Ziel, Erziehung war für ihn ein zentrales Anliegen. Bitzius hatte Pestalozzi 1826, ein Jahr vor dessen Tod, an einer Tagung noch persönlich getroffen und war nicht zufällig während zehn Jahren Schulkommissär und 1835 Mitbegründer der Armenerziehungsanstalt Trachselwald.
1837 publizierte Bitzius ein Buch mit dem Titel «Der Bauerspiegel» mit dem Untertitel «Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf von ihm selbst erzählt». Es erzählt, wie der herzige «Miassli» durch ungünstige Verhältnisse zum «Güterbub» wird, wie es ihm in der Schule ergeht, wie er sich abarbeitet und trotzdem verschuldet, wie er als verschuldeter Mann nicht heiraten darf, wie die geliebte Anneli bei einer Fehlgeburt stirbt, wie Jeremias zum Trinker und Raufbold wird und wie er schliesslich in fremden Diensten verwundet wird. Erst nach diesem Erstlingswerk nannte Bitzius sich als Autor Jeremias Gotthelf.
Die im “Bauernspiegel” beschriebene bäuerliche Gesellschaft hat mich schockiert. Erwartete ich eine heile Welt? Keine Spur davon. Stattdessen werden alle lokalen Ausformungen menschlicher Bosheit, Dummheit und Sturheit genaustens beschrieben samt den seelischen Leiden, die mit ihnen als Ursache und Wirkung verbunden sind.
Es waren wohl vor allem die dem damaligen Publikumsgeschmack entsprechenden Gotthelf-Verfilmungen der 1950-er und 1960-er Jahre, die dazu führten, dass Gotthelf mit der bäuerlichen «guten alten Zeit» assoziiert wurde, die es nie gegeben hat. Der Film «Uli der Knecht» kam 1954 in die Kinos, es wurden 1,6 Millionen Eintritte verkauft. Das bedeutet nicht, dass die Filme deswegen schlecht waren – sie gehören auch zu unserer Kultur. Regie führte der Burgdorfer Franz Schnyder, der mit seinem ersten Film «Gilberte de Courgenay» 1941 einen Beitrag zur geistigen Landesverteidigung geleistet hatte.
Der Besuch des Museums, des Gotthelf-Zentrums, lohnt sich in Lützelflüh. Man muss sich Zeit nehmen und die Schubladen öffnen, in denen die Informationen zum Schriftseller versteckt sind. Auch die Ausstellung im Nebengebäude zur Entwicklung der Talkäsereien ist sehenswert.
Bei der Rückfahrt nach Bern hielt unser Zug in Hindelbank. Vom Bahnhof sind es zu Fuss zwanzig Minuten bis zur Kirche. Einfacher wäre es gewesen, vom Bahnhof mit dem Postauto gleich bis zur Haltestelle «Hindelbank Post» zu fahren.
In der Kirche Hindelbank befindet sich ein pompöses Grabmal für Hieronymus von Erlach (1667-1748), «schillernde Persönlichkeit von ausserordentlicher staatsmännischer Begabung» laut dem Historischen Lexikon der Schweiz, Erbauer des Schlosses Hindelbank und des Erlacherhofs in Bern. Der Bildhauer Johann August Nahl wohnte im Pfarrhaus, als er seine Arbeit am Grabmal begann.
Am Karsamstag 1751 starben die junge Frau des Pfarrers und das Kind bei einer unglücklich verlaufenden Geburt. Das Grabmal, das Nahl für die beiden geschaffen hat, zeigt, passend zu Ostern, die Auferstehung der beiden Verstorbenen. Die junge Frau stemmt die Grabplatte, die in drei Teile zerbricht, nach oben, und drängt nach draussen. Der Säugling folgt ihr. Auf der Grabplatte steht: «Herr, hier bin ich und das Kind, das du mir gegeben hast», gefolgt von einem Gedicht von Albrecht von Haller.
Konkreter kann man Auferstehung wohl nicht darstellen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war das Grabmal der Maria Magdalena Langhans in Hindelbank eine weitherum bekannte und auf Drucken reproduzierte Sehenswürdigkeit.
Bildungsreisende und Kulturschaffende, unter ihnen Johann Wolfgang von Goethe auf seiner Schweizerreise, besuchten jeweils die Kirche, wenn sie in Hindelbank die Postkutsche wechselten.