Die illustrierten Berichte über unsere Ausflüge und Reisen dienen als Erinnerungsstütze für Mitreisende und für uns selbst.
Wir stellen uns jeweils die Frage, was an einem besuchten Ort charakteristisch ist, und beleuchten gerne die weniger bekannten Zusammenhänge. Einen Anspruch auf Vollständigkeit haben wir nicht. Die Berichte ersetzen also nicht die handelsüblichen Reiseführer.
Wenn Sie sich für ein Reiseziel besonders interessieren, dann sehen Sie sich auch die Ankündigung der betreffenden Reise an in der Rubrik Verpasste Gelegenheiten. Wir freuen uns über Kommentare und über jede Weiterverbreitung der Inhalte mit Angabe der Quelle
Normandie, 4. – 15. September 2024
Was ist besonders an der Normandie? Was macht den Reiz dieser Region aus?
Sind es die mächtigen romanischen Abteikirchen von Caen, die gewaltigen gotischen Kathedralen in Rouen, Bayeux und Coutances, die falaises, diese bis zu hundert Meter hohen, senkrecht aufragenden, hellen Kreidefelsen mit ihren Bändern aus grossen, dunklen Kieselsteinen? Sind es die berühmten Schriftsteller, die hier gelebt haben? Ist es der fast tausendjährige Teppich von Bayeux, oder die Moderne in Le Havre, oder das Meer mit seinen extremen Gezeiten, oder le bocage, die kleinräumige, durch Hecken gegliederte Hügellandschaft mit ihren Feldern und Wiesen? Sind es die guten Restaurants, in denen wir oft le poisson du jour, den frisch gefangenen Fisch, essen und dazu cidre brut trinken, sind es die freundlichen und im Vergleich zum hektischen Paris eher entspannt wirkenden Menschen? Oder sind es die Häuser aus grau-schwarz gesprenkeltem Granitgestein in den Dorfzentren, durch die unser Bus zwischen Granville und Mont-Saint-Michel fährt? Oder ist es der Berg selbst, der dem Erzengel geweiht ist, oder der weite Himmel, der sich über die Normandie wölbt und Sonne und Regen bringt?
Wir treffen unsere kleine Gruppe am Morgen des 4. Septembers im Bahnhof Basel, im TGV Lyria nach Paris. Einige Mitreisende kenne ich von früheren Reisen.
Der Zug fährt nicht wie erwartet über Dijon, sondern über Strassburg, trotzdem kommt er im Pariser Gare de Lyon an, und zwar pünktlich. Mit der Metrolinie 14 fahren wir zum Bahnhof Saint-Lazare. Wir sind an diesem Mittwoch alle früh aufgestanden und sind mittags hungrig. Weil wir rechtzeitig auftauchen, finden wir im Restaurant Lazare auch noch spontan freie Sitzplätze an der Theke für ein überraschend gutes Mittagessen.
Den Zug nach Rouen, in die Hauptstadt der Normandie, haben wir so gewählt, dass wir genügend Zeit haben für das Umsteigen in Paris und für eine Zwischenverpflegung. So kommen wir in Rouen um 15 Uhr an, also gerade zum Check-in im Hotel, das wir nach einem viertelstündigen Fussmarsch abwärts vom Bahnhof Rouen Rive Droite erreichen. Das Bild zeigt die Uhrzeit am 1928 eingeweihten Bahnhof bei unserer Abreise.
Unser Hotel ist ein historisches Gebäude mit einem charmanten Innenhof. Es liegt gleich neben der Kathedrale und heisst auch entsprechend.
Rouen, am Unterlauf der Seine gelegen, ist die historische Hauptstadt der Normannen, die im 11. Jahrhundert England eroberten. Die Stadt wuchs und entwickelte sich. Im 17. und 18. Jahrhundert war Rouen die zweitgrösste Stadt des Königsreichs Frankreichs. Daraus erklären sich wohl die Ausmasse der hiesigen Kirchen. Heute leben 114,000 Personen in Rouen, mit der Agglomeration sind es 475,000.
Wir lernen auf einem ersten Spaziergang die Stadt kennen. Die Gassen in der Altstadt und um die Altstadt sind belebt.
Wir besuchen die gotische Kirche Saint-Maclou gleich nebenan und die spätgotische ehemalige Klosterkirche Saint-Ouen (Bild), ein eindrückliches, 134 Meter langes Bauwerk, und das Musée Le Secq des Tournelles in der ehemaligen Kirche Saint-Laurent mit seiner einmaligen Sammlung von jahrhundertealten Eisenobjekten aller Art.
Wir gehen auch an der Fassade der Kathedrale vorbei, die zusätzliche Bekanntheit erlangt hat dank einer Bilderserie des Impressionisten Edouard Monet aus den Jahren 1892 bis 1894, und gelangen zu einer der Brücken über die Seine. Ich erinnere daran, dass der Schweizer Journalist und Schriftsteller Niklaus Meienberg zwar nicht hier begraben ist, aber doch in seinem Testament verfügte, dass seine Asche am Oberlauf in der Seine verstreut werde.
Am Abend geniessen wir ein gemeinsames Abendessen im Café Hamlet am Rande des Aître Saint-Maclou, eines beschaulichen, aber bei näherer Betrachtung etwas makabren Innenhofs, der im 16. Jahrhundert als Massengrab für die Opfer der Pest diente.
Am nächsten Morgen regnet es. Es ist ein Regen, der das Ende des Sommers markiert.
Nach dem Frühstück haben wir den Besuch der Kathedrale auf unserem Programm. Sie wurde im 12. Jahrhundert erbaut, sie brannte im Jahr 1200, die Säulen blieben stehen, im 13. Jahrhundert wurde sie wieder aufgebaut, im 15. und im 16. Jahrhundert verschönert, 1940 und vor allem 1944 schwer beschädigt. Die Glasfenster hatte man vorsorglich entfernt, sie sind erhalten, einige stammen aus dem 13. Jahrhundert. Der unterste Teil des abgebildeten Glasfensters wurde von den Fischern der Stadt gestiftet. Die Bildergeschichten, die auf den mittelalterlichen Fenstern dargestellt sind, lesen sich jeweils von unten nach oben.
Auch bei Regenwetter kommt viel Licht in den hohen Kirchenbau. Bei starkem Regen tropft es vom Dach. Am höchsten erhebt sich der Bau über der Vierung, wo Haupt- und Querschnitt sich überschneiden, dort befindet sich die Decke 51 Meter über dem Boden. Darüber wurde 1876 die bis heute höchste Kirchturmspitze Frankreichs gebaut, 151 Meter ragt sie in die Höhe.
Es gibt in der Kathedrale künstlerisch bedeutende Grabmäler, vor allem in der abgeschlossenen Chapelle de la Vierge, es gibt aber auch dynastisch bedeutsame wie dasjenige für den Normannenführer Rollo (ca. 846 – ca. 931), der sich im Jahr 911 nach der Belagerung von Chartres zum Christentum bekehrte, Frieden schloss mit dem fränkischen König Charles und von diesem die Normandie als Lehen erhielt. Auch das Grabmal für Rollos Sohn Guillaume Longue-Épée ist im Chorumgang zu sehen, und die Grabmäler für die beiden Brüder Henri le Jeune bzw. The Young King (1155-1183) und Richard Löwenherz (1157-1199).
Als wir die Kathedrale verlassen, regnet es stärker als zuvor. Wir retten uns für ein leichtes Mittagessen in die beliebte Crêperie namens Tarte Tatin, wo wir gute und preiswerte galettes essen, eine Art Crêpe aus Buchweizenmehl, farine de sarrasin, manchmal wird dafür auch die Bezeichnung blé noir verwendet – es handelt sich da aber nicht um dunklen Weizen. Die Spezialität stammt aus der Bretagne, heute isst man sie überall in Frankreich. Den Buchweizen, das Korn der Sarazenen, biologisch nicht als Getreide klassifiziert, entdeckten die Kreuzfahrer im Nahen Osten.
Am Nachmittag besuchen wir als erstes die Kirche Sainte-Jeanne-d’Arc auf dem Marktplatz. Die 1979 eingeweihte Kirche in Form eines umgekehrten Normannenschiffs (Drakkar) des Architekten Louis Arretche (1905-1991) ersetzt die 1944 bei Bombenangriffen zerstörte gotische Kirche Saint Vincent, integriert aber die vom Vorgängerbau geretteten Glasmalereien aus der Zeit der Renaissance in gelungener Weise.
Die spätmittelalterliche Geschichte um Jeanne d’Arc tönt unglaublich, wie eine Legende. Sie ist aber in zeitgenössischen Dokumenten gut belegt. Als Vorbereitung haben wir uns die Publikationen Georges & Andrée Duby: Les procès de Jeanne d’Arc von 1973 und Jacques Trémolet de Villers: Jeanne d’Arc. Le procès de Rouen von 2017 besorgt.
Um die Geschichte zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Karte von Frankreich 1429. Das Königreich England und das Herzogtum Burgund haben im Vertrag von Troyes 1420 die Verhältnisse in Frankreich geregelt. In Paris, in der Nordhälfte Frankreichs und im mächtigen Herzogtum Burgund anerkennt man deswegen den 1421 geborenen künftigen englischen König Henri VI auch als König von Frankreich. Anders in den zentralen Landesteilen um Bourges und Chinon sowie im Südosten, dort herrschen die Anhänger des aus Paris entführten dauphin und zukünftigen Charles VII, den diese als Sohn und legitimen Nachfolger des 1422 verstorbenen Charles VI le Fou betrachten. Es gibt zudem isolierte Garnisonen ausserhalb dieses Gebiets, die zum Dauphin halten, beispielsweise auf der Festung Mont-Saint-Michel oder im Städtchen Vaucouleurs in Lothringen, an der Grenze zum Heiligen Römischen Reich.
In dieser Situation hat die 17-jährige Tochter eines armen Bauern aus dem Dorf Domrémy, 20 km südlich von Vaucouleurs, Visionen und hört Stimmen, die ihr sagen, ihre Mission sei es, Frankreich zu retten. Die Stimmen sind laut ihren späteren Angaben die Stimmen der Heiligen Katharina, der Heiligen Magdalena und des Erzengels Michael.
Auf Druck der Bevölkerung, und weil sie Ereignisse voraussagt, die auch eintreffen, stellt man ihr in Vaucouleurs eine Eskorte zur Verfügung, damit sie den Dauphin in Chinon treffen und ihm ihre Dienste anbieten kann. Dort wird sie von Frauen aus der Verwandtschaft des Dauphins und von Theologen überprüft, um sicherzustellen, dass sie keine Schwindlerin ist. Man bestätigt, dass Jeanne demütig, jungfräulich, fromm, ehrlich und einfach ist.
Man überträgt ihr eine Aufgabe, nämlich Versorgungsgüter in die belagerte Stadt Orléans zu bringen. Mit ihrem Enthusiasmus motiviert sie die Soldaten des Dauphins. Diese brechen in der Nacht des 7. auf den 8. Mai 1429 den Belagerungsring auf. In Orléans wird das Ereignis bis heute gefeiert. Jeanne wird als Jungfrau von Orléans bekannt.
Jeanne überzeugt Charles auch, sich in Reims krönen zu lassen, wie es für französische Könige üblich ist. Diese Krönung, die nur mit einem Feldzug durch feindliches Gebiet möglich ist, gelingt ebenfalls.
In der Folge sind die Unternehmungen der Jungfrau, die jeweils in Männerkleidung, unbewaffnet, aber reitend und mit ihrer Standarte vorwärtsstürmt, weniger erfolgreich. Der Angriff auf Paris misslingt. Schliesslich wird Jeanne im Mai 1430 bei Compiègne von den Burgundern gefangengenommen und den Engländern für den sehr hohen Preis von 10,000 livres tournois verkauft.
In Rouen findet darauf unter der Leitung von Pierre Cauchon, Bischof von Beauvais und zeitweilig Rektor der Universität Paris, ein kirchenrechtlicher Prozess gegen Jeanne d’Arc statt. Die öffentlichen Verhöre beginnen im Februar 1431. Jeanne d’Arc verteidigt sich selbst. Die Antworten der jungen Analphabetin sind so überzeugend, dass die Verhöre nach dem 3. März nur noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortgesetzt werden. Die Ankläger versuchen, Jeanne Hexerei, magische Praktiken und ketzerische Ansichten nachzuweisen. Das gelingt ihnen allerdings nur schlecht. Jeanne glaubt, dass die Stimmen, die sie gehört hat, von Gott sind, die Ankläger glauben es nicht. Jeanne leidet während dem Prozess unter schlimmen Haftbedingungen. Englische Wächter sind mit ihr in der Zelle.
Die Prozessakten dokumentieren die Sicht der Anklage. Wer sie heute liest, ist aber vor allem beeindruckt von der Integrität, dem tapferen Selbstbewusstsein und der schlagfertigen Klugheit der jungen Angeklagten und betroffen von der hinterhältigen, blutrünstigen Bosheit der Ankläger.
Hasst Gott die Engländer? lautet eine der Fangfragen an sie. Ihre Antwort: Über die Liebe oder den Hass Gottes gegenüber den Engländern weiss ich nichts, ebenso wenig darüber, was Gott mit ihren Seelen machen wird. Aber ich weiss, dass sie aus Frankreich vertrieben werden mit Ausnahme derer, die hier sterben, und dass Gott den Franzosen den Sieg gegen die Engländer geben wird.
Trotz ihrer Visionen erscheint Jeanne keineswegs als Übermensch, und angesichts der drohenden Todesstrafe widerruft sie auch kurzfristig alle ihre Aussagen. Sie wird darauf zu lebenslanger Haft begnadigt, aber wieder mit ihren Wächtern eingesperrt, die versuchen, sie zu vergewaltigen. Aus praktischen Gründen zieht sie darauf wieder ihre Männerkleider an, die man ihr wohl nicht zufällig in einem Bündel in der Zelle gelassen hat. Dies wird ihr dann als Rückfall in die Häresie ausgelegt. So erreichen die Ankläger, dass Jeanne auf dem Marktplatz von Rouen am 30. Mai 1431 verbrannt wird. Bischof Cauchon setzt seine Karriere als Bischof von Lisieux fort und stirbt 1442 an einem Hirnschlag.
Nachdem sich die militärische Lage – wie von Jeanne vorhergesehen – zu Ungunsten der Engländer entwickelt hat, wird Jeanne d’Arc 1456 in einem zweiten Prozess rehabilitiert.
Wie hat Charles VII geherrscht? Hat sich der Einsatz von Jeanne d’Arc gelohnt? Hat das Gute gesiegt?
Der König hat sich offenbar nie um die Freilassung der prominenten Gefangenen bemüht. In der Schweiz bleibt der König in Erinnerung, weil er seinen Sohn, den späteren König Louis XI, als Anführer der für ihre Brutalität bekannten Söldnerstreitmacht der Armagnaken gegen die Eidgenossen losschickte. Ihr begegneten die Eidgenossen 1444 bei Sankt Jakob an der Birs freudvoll zum Streit, wie es im Schweizerpsalm von 1811 heisst.
Der patriotische Kult um Jeanne d’Arc verbreitet sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine erste Reiterstatue stellt die Stadt Orléans 1855 auf. Die 1431 verbrannte und 1456 rehabilitierte Jeanne wird 1909 seliggesprochen und 1920 heiliggesprochen. Bei den Prozessen und Prozeduren geht es vordergründig um Religion. Bei den Beratungen spielen aber politische Verhältnisse und Überlegungen immer eine Rolle.
Gleich neben dem Marktplatz befindet sich das Haus von Pierre Corneille (1604-1684), der zu den erfolgreichen Theaterautoren der französischen Klassik gehört. Das kleine Museum präsentiert das Leben des Autors, der mit seinem Stück über den mittelalterlichen spanischen Helden Le Cid bekannt wurde. Ein Modell zeigt den Zustand des alten Marktplatzes von Rouen. Am Marktplatz befindet sich übrigens auch das älteste erhaltene Gasthaus Frankreichs.
Etwas ausserhalb der Altstadt steht das alte Spital, das Hôtel-Dieu, wo Gustave Flaubert 1821 als Sohn Arztes und Chirurgen Achille Cléophas Flaubert geboren wurde und wo er seine Kindheit erlebte. Das Museum in der ehemaligen Arztwohnung ist einerseits dem Schriftsteller gewidmet, andererseits der Medizingeschichte.
Eine prächtige Marmorbüste überragt den Eingangsraum. Der Herrscher über die französische Sprache mit seinem üppigen Schnurrbart begrüsst die Gäste selbstbewusst und etwas süffisant. Wirkte er so? Wir wollen es nicht bestreiten. Flaubert war aber auch ein kranker Mensch, er litt an Anfällen, vermutlich an Epilepsie, später auch an Syphilis.
Als Kind schon führte Flaubert Theater auf. Er spielte den konformen Bürger und brachte damit seine treuste Zuhörerin, seine Schwester, zum Lachen. Das Lachen der Schwester hörte auf, als sie jung verheiratet an ihrer ersten Geburt starb.
Der junge Flaubert musste, so hatte es sein Vater bestimmt, Jurist werden. Er begann in Paris ein Studium, mühte sich ab, hatte vielseitige Interessen, aber das Studium war ihm zuwider. Als sein Vater Zeuge seines ersten Anfalles wurde, durfte er sein Studium aufgeben, ohne offen gegen seinen Vater zu rebellieren, und erlangte die Freiheit, sich seiner Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen. im Dorf Croisset an der Seine etwas unterhalb der Stadt lebte und schrieb Flaubert 35 Jahre lang. Das Haus steht nicht mehr, es ist dort nur ein Gartenpavillon erhalten.
Auf dem Rückweg zum Hotel besuchen wir noch den Uhrturm, le Gros Horloge mit einem der ältesten Uhrwerke Europas. Vom Turm aus geniessen wir eine gute Sicht über die Stadt und auf die Westfassade der Kathedrale.
Am nächsten Morgen haben wir den Besuch des Kunstmuseums vorgesehen. Wer von den Sammlungen in Zürich oder Basel verwöhnt ist, findet dieses Museum vielleicht mittelmässig, wir finden aber, dass es sich doch lohnt. Man entdeckt Werke von Perugino, della Robbia, Caravaggio, Velázquez, Ingres, Géricault, Corot, Manet, Pissarro, um nur die mir bekannten zu nennen. Hier abgebildet ein Detail, die Kathedrale von Rouen, aus dem grossen, dreiteiligen Bild von Raoul Dufy Le Cours de la Seine im Innenhof des Museums.
Nach dem Mittagessen fahren wir mit dem Bus zum Bahnhof – Fahrkarten gibt’s an den Tramhaltestellen. Wir nehmen bei sonnigem Wetter den Zug nach Le Havre, wo wir um 15 Uhr ankommen, wo wir die Glasfenster des Bahnhofs beachten, die an die Kirche Saint-Joseph erinnern, und wo wir gleich nebenan in einem sehr modernen Hotel unsere Zimmer beziehen. Dann machen wir uns zu Fuss auf ins Stadtzentrum.
Grosse Teile des Zentrums waren nach den Bombenangriffen der Alliierten 1944 so verwüstet, dass für das nationale Wiederaufbauprogramm in der Hafenstadt nur ein architektonischer Neubeginn sinnvoll war. Chefarchitekt und Stadtplaner in Le Havre war Auguste Perret (1874-1954). Gegründet wurde Le Havre de Grâce 1517 durch François Ier, König von Frankreich (und Gegner der Eidgenossen in den Mailänderkriegen). Heute ist Le Havre mit 166,000 Einwohnern die grösste Stadt der Normandie.
Wir haben im Vorverkauf Tickets für eine geführte Besichtigung der Musterwohnung, des appartement témoin gekauft. Perret, der den rohen Beton als Baumaterial verwendete, liess die Trümmer der Stadt nach Farbschattierungen sortieren und schaffte es so, Beton mit verschiedenen Tönungen herzustellen. Die Wohnungen wurden zwar in verschiedenen Grössen erstellt, je nach dem Wohnraum, den die früheren Bewohner verloren hatten. Gleichzeitig erfolgte der Wiederaufbau der ganzen Stadt mit vorgefertigten Elementen, die jeweils 6,24 m lang waren. Der Ausbaustandard der Wohnungen bot modernen Komfort, die Inneneinrichtung war zweckmässig, dabei wurde rasch, sorgfältig und preiswert gebaut. Die Wohnungen der 1950-er Jahre, inzwischen wie das ganze Zentrum UNESCO-Weltkulturgut, seien nach wie vor begehrt.
Von Auguste Perret stammt auch die Église Saint-Joseph, die von weitem an einen Wolkenkratzer in New York erinnert, was wohl kein Zufall ist – in den 1950-er Jahren fuhren die Franzosen noch mit dem Schiff von Le Havre nach New York (das Bild zeigt im Vordergrund den Teil eines ehemaligen Hafenbeckens und das Kulturhaus Le Volcan von Oscar Niemeyer). 12,768 quadratische Glasscheiben in Farben, die sich je nach Himmelsrichtung und Höhe unterscheiden, schaffen im Inneren eine besondere Atmosphäre.
Unmittelbar nach unserem Besuch beginnt in der Kirche eine Gedenkveranstaltung. Vor 80 Jahren, am 6. September 1944, wurde die Stadt durch Bomben eingeebnet, und 2000 Zivilisten wurden dabei getötet.
Wir wollen aber weiter. In einer Hafenstadt möchten wir das Meer sehen. Wir gehen zu Fuss bis zur Porte Océan. Von dort blicken wir auf die Hafenausfahrt. Bald ist es Zeit für ein Abendessen. Zufällig entdecken wir das Restaurant La Sirène, ein Ort, in dem wir uns um Jahrzehnte zurückversetzt fühlen, und wo wir ausgezeichneten Fisch essen. Zurück zum Bahnhof und zu unserem Hotel fahren wir mit der Strassenbahn.
Nach einem Morgenspaziergang über den Fischmarkt steigen wir am Vormittag des nächsten Tages in den Schienenbus nach Fécamp. Auf der Strasse, die vom Bahnhof zur ehemaligen Abbatiale de la Trinité führt, findet am Samstagmorgen ein lebhafter Markt statt.
Die Kleinstadt hat eine grosse Geschichte. Die Abteikirche des im 7. Jahrhundert gegründeten Frauenklosters wurde im 12. und 13. Jh. neu gebaut, sie war zeitweise Begräbniskirche der Normannenherzöge und rivalisiert mit ihrer Länge von 127 Metern mit Notre-Dame de Paris (130 Meter). Mit dem Marmoraltar, einer Bestellung von 1507 in Italien, beginnt in der Normandie die Renaissance. Auch die Abschrankungen der Seitenkapellen des Chors sind Werke der Renaissance.
Fécamp war lange ein wichtiger Ausgangspunkt für den Fang von Stockfisch vor der Küste Nordamerikas. Durch die rücksichtslose Überfischung gingen die Bestände aber in den 1960-er Jahren zurück, und die moderne Fischfabrik am Hafen musste geschlossen werden. In ihr befindet sich heute das sehenswerte Musée des Pêcheries über die besondere Fischereitradition des Ortes und eine beachtliche Kunstsammlung.
Anders als das nahe Étretat ist Fécamp kein Ort des overtourism. Ich schätze an der Stadt den Charme des etwas schläfrigen früheren Industriestandorts. Produziert wird in Fécamp weiterhin der Kräuterliqueur Bénédictine, und zwar in einem fantastischen Fabrikpalast aus dem 19. Jahrhundert, den man ebenfalls besichtigen könnte.
Faszinierend ist in Fécamp auch die Natur. Der Strand im Südwesten der Stadt ist frei zugänglich. Ganz weit am Horizont erkennt man die berühmten Felsen von Étretat. Bei Ebbe kann man den eindrücklichen falaises entlang spazieren. Natürlich empfiehlt es sich, den nötigen Abstand von den bis zu hundert Meter hohen Kreidefelsen zu halten. Je nach Wetter bröckeln Stücke der Wand ab, die mich faszinieren – weisse Kreide, die man direkt verwenden kann, um auf einer dunklen Oberfläche zu schreiben. Leider beginnt es bei unserem Besuch zu regnen, so dass wir in ein Standcafé fliehen.
Den Sonntagvormittag verbringen wir im MuMa, im Musée d’Art moderne André Malraux in Le Havre, einem modernen Gebäude, das 1961 gleich neben der Hafenausfahrt eröffnet wurde. Beachtlich in der Sammlung ist vor allem der Nachlass des Malers Eugène Boudin (1824-1898), der als Vorläufer der Impressionisten gilt und mit vielen Impressionisten befreundet war. Weiter sind Maler wie Bonnard, Courbet, Degas, Gauguin, Manet, Monet, Pissarro, Renoir, Vallotton und Vuillard in der Sammlung vertreten. Die laufende Sonderausstellung über die Anfänge der Fotografie in der Normandie wurde auch von der Bevölkerung an diesem regnerischen Sonntagmorgen rege besucht. Im Bild der Ausschnitt einer Fotografie mit dem Titel Bâteaux quittant le port du Havre von Gustave le Gray (1824-1880), aufgenommen an einem Abend im Juni 1856 bei Gegenlicht.
Am Nachmittag fahren wir mit dem Zug von Le Havre mit Umsteigen in Rouen nach Caen (108,000). Caen war bis 2016 Hauptstadt der Basse-Normandie, die seither mit der Haute-Normandie die neue Grossregion Normandie bildet. Während in Rouen der Sitz der Regionalregierung ist, ist in Caen der Sitz des Regionalparlaments. Wir fahren mit der Strassenbahn ins Stadtzentrum, wo wir die nächsten drei Nächte verbringen.
Am Montagmorgen sind die meisten Museen in Frankreich geschlossen. Eine Ausnahme macht Bayeux, wo wir nach einer viertelstündigen Zugfahrt ankommen.
Am Vortag schon haben wir uns thematisch mit dem Teppich von Bayeux auseinandergesetzt. Um bei der Betrachtung die Geschichte zu verstehen, die der Teppich darstellt, und um die vielen aussagekräftigen Details zu zeigen, die man leicht übersieht, haben wir das gut dokumentierte Buch von Pierre Bouet und François Neveux mit dem Titel La Tapisserie de Bayeux. Révélations et mystères d’une broderie du Moyen Age mitgeschleppt.
Der fast tausendjährige Teppich, UNESCO-Weltkulturgut, ist eigentlich kein Teppich, sondern eine Wollstickerei auf einem 68 Meter langen Leinengewebe, das lange in der Kathedrale von Bayeux hing. Er erzählt in Bildern und mit einem parallel laufenden lateinischen Text, wie es zum Krieg zwischen dem normannischen Herzog Wilhelm dem Eroberer und seinem Konkurrenten Harold kam und wie Wilhelm im Jahr 1066 in der Schlacht von Hastings siegte und König von England wurde.
Wilhelm der Eroberer, Guillaume le Conquérant, William the Conquerer (1027/28-1087) wurde auch William the Bastard genannt, weil er der Sohn einer Frau ist, mit der sein Vater, Herzog Robert I, nicht kirchlich verheiratet war. Die Normannenherzöge waren zwar Christen, aber führten ihr polygames wikingisches Brauchtum weiter und betrachteten alle ihre Kinder als legitime Nachfolger.
Unter den Mitstreitern des Normannenherzogs war auch Odo, der Bischof von Bayeux, der in verschiedenen Situationen dargestellt wird und wahrscheinlich Auftraggeber der Stickerei war. Zu besichtigen ist der Teppich von Bayeux voraussichtlich noch bis August 2025. Dann ist eine Restaurierung fällig. Bayeux plant auch gleich einen neuen Museumsbau für die Attraktion.
Bayeux ist auch als Stadt sehenswert. Weil die deutschen Truppen sich kampflos aus ihr zurückzogen, blieben ihr die Kriegszerstörungen anderer Städte der Normandie erspart, und viele Fachwerkhäuser stehen bis heute. Am 14. Juni 1944 wandte sich General de Gaulle hier in Bayeux in einer Rede an die Bevölkerung. Der begeisterte Empfang, der ihm bereitet wurde, trug dazu bei, dazu, dass die Amerikaner de Gaulle die Verwaltung in den befreiten Gebieten anvertrauten und auf ihren Plan verzichteten, eine amerikanische Militärverwaltung einzusetzen.
Auch das Musée d’Art et d’Histoire Baron Gérard in Bayeux ist am Montag geöffnet. Wir besuchen es nach unserem Mittagessen. Es befindet sich in der ehemaligen Residenz des Bischofs gleich neben der Kathedrale. Das Museum zeigt in chronologischer Ordnung viel Lokalgeschichtliches, archäologische Funde, Malereien, Schnitzereien, Landschaftsmodelle, die Werke der Spitzenklöpplerinnen sowie die Produkte der lokalen Porzellanherstellung. Auch ein Gerichtssaal, der von 1793 bis 1987 benutzt wurde, ist Teil der Ausstellung.
In der Kathedrale, deren Schiff während der romanischen Epoche begonnen wurde, gefällt mir besonders die Krypta aus dem 11. Jahrhundert mit ihren romanischen Kapitellen und mit den Malereien musizierender Engel aus dem 15. Jahrhundert.
Im kleinen, süss-kitschigen und sympathischen Teehaus Les Volets Roses gegenüber der Kathedrale stärken wir uns, bevor wir mit dem Zug zurück nach Caen fahren. Zurück in Caen entdecken wir die gut erhaltene Altstadtgasse Rue de Vaugueux mit ihren Restaurants. Das Restaurant L’Avenue 21 ist auch am Montag geöffnet, und wir können es empfehlen.
Am nächsten Morgen wollen wir die Stadt Caen besser kennenlernen. Anders als Rouen und Bayeux ist Caen keine römische Stadt, sondern war nur eine kleine Siedlung, als Wilhelm der Eroberer um das Jahr 1060 auf dem ausgedehnten Hügel über der Stadt eine weitläufige Festung bauen lässt und zusammen mit seiner Frau ein Frauen- und später ein Männerkloster gründet.
Das Männerkloster Abbaye-aux-Hommes mit der Kirche Saint-Étienne sehen wir uns am Vormittag an. Der Baubeginn wird um 1066 angesetzt, im Jahr 1077 ist der Bau vollendet. Der Chor wurde im 13. Jahrhundert neu gebaut, sonst ist die Kirche im romanischen Stil erhalten. Die mächtige, schmucklose Westfassade mit den beiden Türmen wirkt streng. Mir gefällt das Kreuz, das sich hoch oben über dem Giebel erhebt und an ein keltisches Kreuz erinnert.
Die Grabplatte für den Bauherrn befindet sich zentral vor dem Altar. Es liegt dort aber vermutlich nur ein Oberschenkelknochen Wilhelms des Eroberers, und auch dies ist nicht sicher, denn die Hugenotten haben während den Religionskriegen das Grab des Normannenfürsten geschändet und seine Knochen verstreut.
Wir beschliessen, den Besuch des Schlosshügels auf den nächsten Tag zu verschieben, und fahren mit dem städtischen Bus dem Schifffahrtskanal entlang ans Meer, zum Hafen von Ouistreham, wo wir in einem der vielen Fischrestaurants einen Platz finden.
Von Ouistreham nach Portsmouth verkehren grosse Fährschiffe. Der für diesen Verkehr reservierte Teil des Hafens ist mit einem hohen, doppelten Zaun abgesperrt. Diesem Zaun entlang gelangen wir zu einem flachen Sandstrand, dem wir folgen. Braun-weisse Wellen überschlagen sich, weiter draussen wirkt das Meer grünlich, gegen den Horizont hin bläulich. Der Himmel ist grau, ein kühler Wind weht uns entgegen, leichter Nieselregen fällt. Hinter dem Sandstrand und den niedrigen Dünen stehen die charakteristischen Villen des 19. Jahrhunderts.
Zurück in Caen besuchen wir gegen Abend die Abbaye-aux-Dames mit ihrer Klosterkirche zu Ehren der Dreifaltigkeit. Das Kloster wurde um 1060 oder 1062 durch Mathilde von Flandern gegründet, der Frau Wilhelms des Eroberers, die während des Feldzugs ihres Mannes Regentin des Herzogtums war und 1068 zur Königin von England gekrönt wurde. Die gotischen Kreuzrippengewölbe der Kirche ersetzen eine frühere Holzdecke und stammen aus der Zeit um 1130. Mathildes Grab wurde auch zerstört, erhalten ist aber im Chor der Kirche die ursprüngliche Grabplatte, geschützt unter einer dicken Glasscheibe, mit einem Text über die Tugenden der Königin.
Gebaut sind die Kirchen und das Schloss von Caen aus einem hellen Kalkstein, der in Caen abgebaut wurde, als Baumaterial begehrt war und auch anderswo verwendet wurde, so für die Abtei von Fécamp, für die Kathedralen von Canterbury und Norwich, für den London Tower und den Uhrturm der Westminster Abbey (Big Ben) in London, für den Königspalast von Brüssel und so weiter.
Am nächsten Tag scheint die Sonne, der Regen ist weitergezogen zu den Alpen. Wir gehen an zwei sehenswerten Renaissancebauten (Hôtel d’Escoville, Église Saint-Pierre) vorbei und steigen hoch auf den Schlosshügel. Im Laufe des Vormittags besuchen wir das Kunstmuseum und das Musée de Normandie. Wegen archäologischen Grabungen und Renovationen ist ein grosser Teil des Schlosshügels abgesperrt. Wir geniessen trotzdem die Aussicht und betrachten von aussen den zivilen Versammlungsraum Salle de l’Échiquier aus dem 12. Jahrhundert.
Mit gefällt im Kunstmuseum das von Perugino 1501 bis 1504 gemalte Bild der Vermählung der Jungfrau, Raubkunst aus napoleonischer Zeit. Peruginos Schüler Raffaello Sanzio malte 1504 ein sehr ähnliches Bild, in dem er nach Ansicht der Kunsthistoriker seinen Meister erstmals übertraf. Es befindet sich in der Pinacoteca di Brera in Mailand.
Im Musée de Normandie finden wir sehenswerte merowingische Fundstücke, Karten zur Ausbreitung der Normannen, Modelle, die die typischen Landschaften der Normandie zeigen, Informationen zur Wirtschaftsgeschichte, Krüge für cidre, Flaschen für Calvados und unzählige, vielfältige Sammlungsstücke mit einem Bezug zur Normandie, Bleibarren und Informationen zur Entwicklung und zum Niedergang der Metallurgie. Wer sich mit der Region auseinandersetzen will, sollte das Museum besuchen.
Zur Mittagszeit entdecken wir ein kleines Lokal mit persönlichem Service, das wir empfehlen können: L’Embroche. Zum Dessert gibt’s hausgemachten Rhabarberkuchen, aus Rhabarbern frisch vom Garten der Hausherrin. Darf man Rhabarber ab Juli noch verwenden? In Frankreich stellt sich die Frage offenbar nicht. Andere Länder, andere Sitten, vielleicht auch andere Rhabarber? Wir überleben das Essen ohne Beschwerden.
Nach dem Mittagessen bleibt uns noch Zeit für einen Spaziergang um das Hafenbecken. Dann holen wir im Hotel unser Gepäck und fahren mit der Strassenbahn zum Bahnhof, dann mit dem Zug gemütlich in knapp zwei Stunden durch die ländliche Normandie bis Granville, wo unser kleines Hotel gleich gegenüber dem Bahnhof liegt.
Granville ist eine etwas verschlafene Kleinstadt am Meer, die mit einer direkten Bahnlinie mit Paris verbunden ist. Mit seinem 1910 erbauten Casino am Meer hat Granville versucht, sich als Monaco des Nordens zu profilieren, wie wir auf alten Werbeplakaten im Hotel sehen. In der Crêperie La Bolée Normande nicht weit vom Hafen finden wir spontan Platz für ein Abendessen.
Am Donnerstag, den 12. September, ist ein Höhepunkt unserer Reise geplant, der Besuch des Mont-Saint-Michel am südwestlichen Rand der Normandie, an der Grenze zur Bretagne. Nach Paris handelt es sich um den meistbesuchten touristischen Ort in Frankreich. Wir besuchen ihn bewusst an einem Wochentag ausserhalb der Ferienzeit.
Kann man den Mont-Saint-Michel mit dem öffentlichen Verkehr erreichen? Der Bus 308 von Granville verkehrt einmal täglich zwischen Mai und September, im Winter nur am Wochenende. Mit dem Fahrplan bleibt genügend Zeit für die Besichtigung. Der Fahrpreis ist auch für zwei Personen günstiger als die Parkgebühren beim Mont-Saint-Michel. Häufigere Busse fahren vom Bahnhof Pontorson. Direkte Busverbindungen gibt es auch von Rennes und von Saint-Malo.
Unsere Busfahrt dauert zwei Stunden. Die Fahrkarten kaufen wir im Bus. Der Bus ist komfortabel und ziemlich leer. Er fährt durch die alten Dorfzentren an der Küste. Manchmal bieten sich kurze Ausblicke auf die Bucht.
Unser Bus fährt zum modernen Informationszentrum, von dort verkehren navettes, Gratis-Busse – auch die Autos kommen nicht näher an den Berg. Dort gibt es Pläne des Mont-Saint-Michel, Toiletten und Eintrittskarten für die Abtei. In der Nähe, noch auf dem Festland, gibt’s mehrere Hotels sowie eine Bäckerei, in der man auch Kaffee kriegt.
Bei schönem Wetter lohnt es sich, in etwa 35 Minuten zu Fuss zu gehen und unterwegs auch das Wehr am Fluss Cauchon zu bestaunen.
Nachdem der Mont-Saint-Michel im Jahr 1879 durch einen Damm mit dem Festland verbunden wurde, verlor er zunehmend seinen ursprünglichen Charakter als markanter Granitberg in der sandigen Bucht. Im Jahr 2006 wurde der Damm, auf dem sich auch Parkplätze befanden, abgebaut und durch eine elegante Passerelle ersetzt, unter der Wasser und Sand zirkulieren kann, und die auf einem kurzen Teilstück bei starker Flut überflutet wird, so dass der Berg regelmässig wieder eine Insel wird.
Durch das Wehr am Fluss Cauchon und ein ausgeklügeltes Management des Flusswassers und der eindringenden Meeresflut wird versucht, der Verlandung der Umgebung des Berges entgegenzuwirken. Ist der Versuch erfolgreich? So sieht es auch.
Auf der Insel ist die Hauptgasse vom Stadttor zur Abtei eng, es kann auch mal ein Gedränge entstehen.
Es gibt einen kleineren Weg nach oben, der zuerst auf die Westseite des Berges führt. Diesen Weg nehmen wir. Unterwegs finden wir einen Platz für eine Zwischenverpflegung. Die Restaurants können wir hier nicht empfehlen.
Beim Besuch der Abtei steigt man zuerst die Treppen hoch zur Abteikirche und zu einer Aussichtsterrasse, die durch den Abbruch des westlichsten Teils des Kirchenschiffs entstanden ist. Beim Abstieg führt der Besuchsparcours dann durch den Kreuzgang, das Refektorium, durch die Halle für hochrangige Gäste, durch eine Krypta mit grossen Pfeilern zur Stütze der darüber liegenden gotischen Apsis, zur Kapelle Saint-Étienne, zu einem grossen Rittersaal, zu den Kellergewölben, in denen die Buchhandlung untergebracht ist, und zum Ausgang. Während wir die Abtei besuchen, zieht ein starker Regen über den Berg. Als wir ins Freie treten, hört der Regen auf.
Auf dem Berg gibt es, nachdem die Insel lange als Gefängnis gedient hat, wieder eine Gruppe von Mönchen, die in der Abteikirche auch Gottesdienste abhalten. In der Abteikirche ist als Reliquie der Schädel des Bischofs Aubert von Avranches zu sehen, dem der Heilige Michael im Jahr 708 erschienen ist. Zweimal bat ihn der Erzengel umsonst, auf dem Mont-Tombe, wie der Berg damals hiess, ein Heiligtum zu errichten, so wird berichtet, und beim dritten Mal drückte er ihm zur Erinnerung ein Loch in den Schädel. Das Heiligtum, so forderte der Erzengel, solle nach dem Vorbild des Heiligtums auf dem Monte San Gargano in Apulien gebaut werden.
In der Pfarrkirche Saint-Pierre, die neben dem Zugangsweg zur Abtei steht, erklärt ein junger Geistlicher einer jugendlichen Zuhörerschar die Bedeutung des Erzengels.
Ich habe schon in der Reisebeschreibung darauf hingewiesen, dass der Erzengel Michael kein beliebiger Heiliger ist, und dass die Kerzen, auf denen Saint Michel priez pour nous steht, aus meiner Sicht unsinnig sind, weil es die christliche Vorstellungswelt trotz des monotheistischen Selbstverständnisses eine Hierarchie im Himmel kennt, und eine Rollenverteilung.
Défendez-nous dans le combat, so beginnt das Gebet, das Papst Leo XIII, Papst von 1878 bis 1903, formuliert hat, oder in deutscher Sprache: Heiliger Erzengel Michael, verteidige uns im Kampfe gegen die Bosheit und die Nachstellungen des Teufels, sei unser Schutz. Und weiter: ‚Gott gebiete ihm‘, so bitten wir flehentlich.
Wenn wir so beten, so bitten wir also nicht den Heiligen Michael, bei Gott ein gutes Wort für uns einzulegen, sondern umgekehrt, wir bitten Gott, dass er Michael befiehlt, uns im Kampf beizustehen. Wenn es konkret wird, dann ist Gott also möglicherweise auf den Einsatz seines Erzengels angewiesen. Dieser wird ja auch nie betend dargestellt, sondern entweder kämpfend mit seinem Flammenschwert, oder die Seelen wägend, oder bei beiden Tätigkeiten gleichzeitig.
Und er trägt ja wohl nicht zufällig den ungewöhnlichen hebräischen Namen Wer ist wie Gott? Eine Frage, die sich bei anderen Engeln und Heiligen nicht stellt.
Das Gebet von Leo geht weiter und endet so: Du aber, Fürst der himmlischen Heerscharen, stoße den Satan und die anderen bösen Geister, die in der Welt umherschleichen, um die Seelen zu verderben, durch die Kraft Gottes in die Hölle. Amen. Kein Raum für Kompromisse also mit diesem Erzengel.
Der Geistliche, der zu den Jugendlichen spricht, erklärt die Rolle des Erzengels. Die Menschheit habe ihren ersten spirituellen Kampf verloren, als sie das göttliche Verbot übertrat und vom Baum der Erkenntnis ass. Dieser verlorene Kampf habe dazu geführt, dass Adam und Eva vom Erzengel aus dem Paradies vertrieben worden seien. Der Geistliche spricht auch über die Rolle des Erzengels beim Jüngsten Gericht. Michael, so meint er, stehe am Anfang der Bibel und an ihrem Ende.
Viele bildliche Darstellungen zeigen, wie Adam und Eva von einem Engel aus dem Paradies vertrieben werden. Steht es so in der Bibel? Nein, so steht es nicht.
Wir fahren am Ende des Nachmittags mit dem Bus zurück nach Granville.
Am nächsten Tag erwartet uns eine weitere Busfahrt, diesmal eine kurze. Wir fahren, wieder bei sonnigem Wetter, nach Coutances.
Coutances ist die letzte grosse Kathedrale, die wir besuchen auf dieser Reise, die auch eine Fortsetzung ist der Reisen zu den gotischen Kathedralen in der Champagne und Picardie im August 2021 und in Bourges, Tours, Le Mans, Angers und Chartres im September 2022.
Die Kathedrale von Coutances gilt laut Guide Michelin wegen dem glücklichen Gleichgewicht ihrer Proportionen und der Reinheit ihrer Linien als berühmtestes Schmuckstück der Gotik in der Normandie (le plus fameux fleuron de l’art gothique en Normandie).
Vom Bahnhof, wo der Bus hält, führen steile Fusswege auf den Hügel, auf dessen höchstem Punkt sich die Kathedrale erhebt. Ist die Lage auf dem Hügel inspiriert von der Vorstellung des Himmlischen Jerusalems?
Unterwegs am Hang liegt die Kirche Saint-Pierre, die wir betreten, ein grosser, etwas verwahrloster, spätgotischer Bau aus dem 15. und 16. Jahrhundert, eine Kirche, die andernorts ausreichen würde für die spirituellen Bedürfnisse eines Städtchens, das heute 8500 Menschen zählt.
Wir gehen weiter zur Kathedrale. Der Bau begann um 1030, und 1056 wurde die Kathedrale im Beisein Wilhelms des Eroberers der Jungfrau Maria gewidmet. Chor, Querschiff und Vierungsturm wurden im 13. Jahrhundert gotisch neu gebaut. Im Kirchenschiff aber ist der romanische Bau unter den gotischen Elementen erhalten geblieben.
Die Söhne des um 1041 verstorbenen Tancrède de Hauteville sollen den Bau mitfinanziert haben. Tancrède de Hauteville, ein eher unbedeutender Adeliger aus der Umgebung von Coutances, hat zwölf Söhne, aber nur einer kann seine kleine Herrschaft erben. Die anderen versuchen ihr Glück als Wegelagerer und Söldner in Süditalien. Sohn Drogon schafft es, Graf in Apulien zu werden, dessen jüngerer Bruder Robert Guiscard weitet das normannische Herrschaftsgebiet auf ganz Süditalien aus und lässt die Kathedrale von Salerno bauen. Der jüngste der zwölf, Roger, übernimmt das Reich seines älteren Bruders und wird in Sizilien zum König gekrönt. Dessen Sohn Roger II baut in Palermo den Normannenpalast, UNESCO-Weltkulturgut und bis heute Sitz des sizilianischen Parlaments. Die Dynastie der Hauteville / Altavilla endet mit Costanza (1154-1198), Kaiserin und Gemahlin von Kaiser Heinrich VI und Mutter des späteren Kaisers Friedrich II. Eine phantastische Geschichte.
An der Rue Geoffrey de Montbray – benannt nach dem streitbaren Ritterbischof im Umfeld Wilhelms des Eroberers – entdecken wir zwei sympathische, kleine Restaurants, in denen aber alle Plätze schon reserviert sind. Grösser ist la Taverne du Parvis, auch gut und ebenfalls gut besucht, wie wir bald feststellen.
Nach dem Mittagessen fahren wir zurück nach Granville. Auf Wunsch unserer Gruppe besuchen wir dort hoch auf einem Felsband über dem Meer das Elternhaus des Modeschöpfers Christian Dior (1905-1957), heute ein Museum. Der Garten der Fabrikantenvilla ist als Park frei zugänglich. Wer sich für Mode interessiert, sollte das Museum besichtigen. Für mich ist es der erste Besuch in einem Museum, das der Mode gewidmet ist, eine willkommene neue Erfahrung.
Von der Villa führt ein steiler Weg über Treppen hinunter zur Standpromenade. Das Wetter ist inzwischen fast wieder sommerlich warm. Es ist unser letzter Nachmittag in der Normandie. So schnell vergeht die Zeit.
Wir steigen vom Casino die Treppen hinauf zur Altstadt von Granville, die auf soliden, schwarzen Felsen über dem Meer gebaut ist, besuchen die Kirche Notre-Dame mit ihren Votivschiffen, die von geretteten Fischern stammen, spazieren weiter, hoch über dem Meer und in der Abendsonne, bis zur Pointe du Roc, dann weiter hinunter zum Hafen, wo die Schiffe während der Ebbe auf dem Trockenen liegen. Dort haben wir für ein gemeinsames Abendessen einen Tisch reserviert. Bistronomik nennt sich das Restaurant mit gastronomischen Ambitionen, das uns bei einem früheren Besuch gefallen hat.
Am nächsten Morgen fahren wir mit dem Zug nach Paris. Normalerweise fahren direkte Züge in drei Stunden von Granville nach Paris-Montparnasse. An unserem Reisetag aber sind Bauarbeiten angesagt, und so fahren wir zuerst zurück nach Caen, steigen dort um und fahren von dort ohne Halt bis Paris Saint-Lazare, wo wir am Mittag ankommen, unser Hotel beziehen, in der Nähe in einem thailändischen Restaurant essen und anschliessend das Musée d’Orsay betreten.
Das Musée d’Orsay ist die letzte Sehenswürdigkeit unserer Reise. Die hochkarätige Sammlung im ehemaligen Bahnhof ist der Kunst zwischen 1848 und 1914 gewidmet. Zu den bevorzugten Sujets der Maler gehören die Landschaften der Normandie, vor allem die Küsten. Zum Beispiel die Küste von Étretat nach dem Regen, gemalt 1870 von Gustave Courbet.
Im Musée d’Orsay befindet sich auch eine Replik der Skulptur Saint Michel terrassant le dragon von Emmanuel Frémiet (1838-1910). Die vergoldete Version befindet sich seit 1897 auf der Spitze der Abteikirche des Mont-Saint-Michel – so hoch im Himmel oben, dass man sie nicht genau sieht.
Das ist wohl gut so, denn von nahe sieht man, dass der Erzengel den kleinen Drachen nicht niederschmettert, nicht besiegt, nicht vernichtet, ihn nicht einmal bekämpft, sondern nur auf ihm steht, ihn als Plattform benützt. Denn dieser Erzengel ist schwer, eine halbe Tonne schwer in seiner metallischen Rüstung, die ihn gewiss auch am Fliegen hindert, da helfen die Flügel wenig. Kein spiritueller Erzengel also, so empfinde ich es, sondern Ausdruck einer Zeit, die sich auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zubewegt. Wesensverwandt ist dieser französische Erzengel mit dem deutschen Michael in Ritterrüstung, der über das 1913 eingeweihte Völkerschlachtdenkmal in Leipzig wacht.
Den Tag in Paris beenden wir mit einem fröhlichen Abendessen in einem Restaurant an der Rue de la Gaité.
Am nächsten Morgen fahren wir mit dem TGV von Paris bis zum Bahnhof Belfort-Montbéliard TGV, nehmen den Lift vorne am Bahnsteig, gelangen so zum Bahnhof Meroux und fahren gemütlich weiter durch die Ajoie und über Delsberg heim an unsere Wohnorte.
Biel / Bienne, 24. August 2024
Am Morgen des 24. August treffen wir uns vor dem Bieler Bahnhof neben der Eisenplastik Vertschaupet, die der Künstler Schang Hutter (1934-2021) geschaffen hat. Sie erinnert daran, dass die Menschheit nicht nur aus aufrechten Helden besteht. Gleichzeitig dient sie als Erinnerung an die dreizehn schweizerischen Plastikausstellungen, die die Stadt Biel zwischen 1954 und 2019 organisiert hat. Eines der Ziele dieser Ausstellung war vermutlich, das negative Bild von Biel als einer kulturlosen Stadt zu korrigieren.
Biel leidet unter dem Ruf der Gewöhnlichkeit. Tatsache ist, dass es nie ein bevorzugter Sitz der Musen war, es auch heute nicht ist. Das Sinnen und Trachten der Bewohner ist mehr der materiellen als der geistigen Seite des Lebens zugewendet. Das schreibt der langjährige sozialdemokratische Stadtpräsident Guido Müller (1875-1963) in einem 1952 herausgegebenen Heimatbuch mit dem Titel Das neue Biel. Man spürt beim Lesen, da leidet nicht nur die Stadt, da leidet auch der Autor. Und an anderer Stelle: Das bloss Nützliche, Materielle findet sich überbetont. Um es in einem Bilde zu sagen: Biel ist eine hinkende Stadt, mit einem langen wirtschaftlichen und einem kurzen kulturellen Bein.
Seit 1952 hat sich einiges verändert, das Verständnis von Kultur beispielsweise. Die bloss nützlichen Fabrikgebäude von damals sind heute oft denkmalgeschützt. Und der günstige Wohnraum in der oft von Krisen betroffenen Industriestadt Biel hat kreative Menschen angezogen.
Zurück zu unserem Treffpunkt. Durch die Verlegung des Bahnhofs an den heutigen Standort im Jahr 1923 entstand Raum für den Bau eines einheitlich geplanten modernen Viertels, das wir überblicken, bevor wir uns nochmals dem Bahnhof zuwenden und im Wartsaal die Wandmalereien von Philippe Robert (1881-1930) betrachten.
Dann gehen wir zu Fuss am früheren Schlachthaus vorbei zum ehemaligen Fabrikgebäude der General Motors Suisse SA.
In einer Zeit, in der die Uhrenindustrie noch unter den Folgen der Wirtschaftskrise von 1929 litt und die Arbeitslosigkeit während Jahren sehr hoch blieb, konnte Guido Müller die amerikanische Firma General Motors aus Detroit dazu bewegen, ein Automontagewerk in Biel zu eröffnen. Die Stadt stellte den Boden zur Verfügung, stellte der Firma das Fabrikgebäude nach Plänen der GM hin und lockte mit Steuervergünstigungen. Im Frühling 1936 rollte der erste Buick vom Förderband, 1957 hatte man 50,000 Autos montiert, 1969 500,000. 1975, zu Beginn einer neuen Uhrenkrise, schloss die Fabrik. Ein Teilnehmer an unserem Rundgang erlebte die Schliessung vor 49 Jahren als Arbeitnehmer.
Wir gehen geradeaus weiter und überqueren die Zihl. Bis zum Bau des Nidau-Büren-Kanals im Rahmen der Ersten Juragewässerkorrektion ab 1868 befand sich der Ausfluss des Bielersees an dieser Stelle. Nidau war bis zu diesem Zeitpunkt der von der Natur prädestinierte Umladeort für Waren am Ausfluss des Sees, vergleichbar mit Zürich, Genf, Luzern oder Thun. So kann es nicht erstaunen, dass die Grafen von Neuenburg hier im 12. Jahrhundert erstmals ein Schloss bauten, anfänglich wohl eine Holzkonstruktion. Die Berner eroberten Nidau im 14. Jahrhundert. Das Schloss mit seinem heute schiefen Eckturm wurde Sitz einer bernischen Landvogtei und blieb bis Dezember 2009 Sitz eines bernischen Amtsbezirks.
Vermutlich war die Gründung von Biel eine Antwort des Fürstbischofs von Basel auf die Gründung von Nidau. Der Fürstbischof, weltlicher Landesherr über weite Juragebiete seit dem Jahr 999, markierte so seinen Herrschaftsanspruch. Nach urkundlichen Erwähnungen von Biel im 12. Jahrhundert wird Biel im Jahr 1230 erstmals als Stadt bezeichnet.
Vom Schloss gehen wir einige Schritte weiter und beachten das Denkmal mit der Aufschrift DEN RETTERN AUS GROSSER NOT DAS DANKBARE SEELAND, errichtet als Dank an den Seeländer Arzt Johann Rudolf Schneider, der sich als Politiker für die Juragewässerkorrektion eingesetzt hatte, und an den Bündner Ingenieur Richard La Nicca, der die Korrektion plante. Vom Zentrum von Nidau aus fahren wir anschliessend quer durch die Stadt Biel mit dem Bus zum kaum bekannten Aussichtspunkt Jutzhubel am Jurahang.
An einem schattigen Ort stellen wir das Fürstbistum Basel vor, ein Staatswesen, das zum Heiligen Römischen Reich gehörte, auf dem heutigen Gebiet der Eidgenossenschaft acht Jahrhunderte lang (d.h. länger als die Eidgenossenschaft) existierte, nie zur Eidgenossenschaft gehörte und im historischen Bewusstsein der Gesellschaft kaum Spuren hinterlassen hat. Und natürlich sprechen wir auch über die Stadt Biel, die sehr bald beginnt, ihre eigene Politik zu verfolgen, ohne den Fürstbischof um Erlaubnis zu fragen, indem sie sich im 13. und 14. Jh. rechtlich absichert in Verträgen mit den Nachbarn, mit den Städten Bern, Freiburg, Solothurn und Murten, mit den Herren von Neuenburg, Nidau, Grandson und Montbéliard, mit den Klöstern von Frienisberg, St. Imier, Trub, Bellelay, Gottstatt, St. Johannsen und mit den Johannitern in Münchenbuchsee.
Die Stadt, die das Recht hat, in der Herrschaft Erguel zu rekrutieren, nimmt auch an eidgenössischen Kriegszügen teil, am Gümmenenkrieg, in Bellinzona, im Alten Zürichkrieg, bei der Eroberung des Thurgaus und an den Burgunderkriegen, und erhält so einen Sitz als zugewandter Ort an der Tagsatzung.
1529 führen die Bieler die Reformation ein. Als der junge und energische Jakob Christoph Blarer von Wartensee 1575 vom Domkapitel zum Fürstbischof gewählt wird, ist er bestrebt, die Reformation in Biel rückgängig zu machen nach dem Prinzip cuius regio, eius religio, nach welchem die Untertanen die Konfession ihres Landesherrn übernehmen müssen. Ein solches Unterfangen ist ihm in der Herrschaft Birseck geglückt, aber in Biel scheitert er am Widerstand der Bevölkerung. In seiner Verzweiflung versucht der Fürstbischof, die Stadt Biel den Bernern zu verkaufen. Die Bieler wehren sich erfolgreich, sie bleiben lieber widerspenstige Untertanen des Bischofs. Ein Reisender des Jahres 1788 wundert sich sehr über die Stadt, die ihrem Oberherrn huldigt und zugleich den Gehorsam versagt.
Die Franzosen besetzen Biel kampflos anfangs Februar 1798. Frankreich sieht sich als Rechtsnachfolger des unterlegenen Fürstbistums, dem keine kaiserliche Armee zu Hilfe gekommen ist. Die Stadt wird Teil von Frankreich und nicht Teil der etwas später gegründeten Helvetischen Republik. Am Wiener Kongress verfehlt Biel sein Ziel, der Eidgenossenschaft als eigener Kanton beizutreten. Zusammen mit dem grössten Teil des ehemaligen Fürstbistums wird die Stadt dem Staate Bern zugeteilt, als Kompensation für den Aargau und die Waadt, die für Bern definitiv verloren sind. Die Berner Patrizier, die die Herrschaft ab 1814 wieder innehaben, müssen versprechen, die katholische Religion im Nordteil des Kantons und auch einige Vorrechte der Stadt Biel zu respektieren. Sonst regieren sie wieder so selbstherrlich wie früher, bis sie nach Protesten im Januar 1831 abdanken. In Biel feuern junge Liberale auf dem Jutzhubel vor Freude Salutschüsse aus zwei Kanonen (so steht’s in der zweibändigen Bieler Geschichte von 2013).
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die Textilindustrie mit den indiennes, bedruckten Baumwolltüchern. Anfangs der 1840-er Jahre gerät diese Industrie wegen der englischen Konkurrenz in eine Krise. Biel reagiert. Die Stadt beschliesst im Jahr 1843, Uhrmacher und ihre Familien aus dem Jura anzuziehen. Sie ist dafür auch bereit, französischsprachige Schulen zu eröffnen. Die Zweisprachigkeit ist also kein Zufall und kein erlittenes Schicksal, sondern beruht auf einer bewussten Entscheidung. Bald wird Biel/Bienne eine der am schnellsten wachsenden Städte der Schweiz, eine moderne Stadt – Zukunftsstadt ville avenir steht jahrelang auf den Poststempeln.
Nach der Krise der 1930-er Jahre gerät die Uhrenindustrie in den 1970-er und beginnenden 1980-er Jahren in eine erneute Krise, die das Ende der Industrie hätte bedeuten können.
Überhebliche Firmenchefs hatten sich geweigert, das Potenzial der elektronischen Zeitmessung zu nutzen, oder hatten die technologische Entwicklung verschlafen. Sie erkannten deren Gefahr für die traditionelle Uhrenindustrie erst, als alles verloren schien. Bald wurde der Weltmarkt von günstigen Quarz-Armbanduhren made in Japan überschwemmt, die genauer und billiger waren als die mechanischen Armbanduhren aus der Schweiz. Die Uhrenhersteller, organisiert in den Konzernen ASUAG und SSIH, konnten sich auf keine Strategie einigen und überlegten sich die Auslagerung der Produktion der bekanntesten Uhrenmarken an Standorte wie Hongkong. Auch die Banken glaubten nicht mehr an die Zukunft der Uhrenindustrie.
Ohne den in 1928 in Beirut geborenen Unternehmensberater und Unternehmer Nicolas Hayek hätte die Schweizer Uhrenindustrie enden können wie andere Industrien, die es hierzulande heute nicht mehr gibt.
Wir lesen einige Stellen vor aus dem 2005 publizierten Gespräch von Friedemann Bartu mit Hayek. Wenn wir Hayek richtig verstanden haben, so wollte er unbedingt die ganze Uhrenproduktion von der Billiguhr zu den Luxusuhren in der Schweiz behalten, achtete dabei immer auf die Qualität des Produktes, betrieb ein geschicktes Marketing und lehnte die gängige Vorstellung ab, dass Rentabilität mit Entlassungen zu erreichen sei.
Von unserem ruhigen Aussichtspunkt steigen wir die Treppen hinunter in die Altstadt. Unterwegs halten wir bei der Römerquelle, in der im Sommer 1846 bei Reinigungsarbeiten Hunderte römische Münzen gefunden wurden. Biel konstruierte sich darauf eine römische Vergangenheit, über die ich als Schüler in Biel unterrichtet wurde, an die aber heute kein Historiker mehr glaubt.
Wir gehen zum Engelbrunnen an der Obergasse, wo ein holder Engel ein Lamm, symbolisch für die Christenheit, vor dem Zugriff einer Teufelin beschützt, sehen uns um im Ring und bei der ehemaligen fürstbischöflichen Burg, vor der am Samstag Marktstände aufgestellt sind, und verabschieden uns in die Mittagspause – in der Altstadt gibt es Restaurants. Angenehm fanden wir das Restaurant St. Gervais, ehemals das Haus des Klosters Bellelay in Biel, später das erste Volkshaus, bis heute im Besitz einer Genossenschaft.
Um 14 Uhr haben wir uns in der Stadtkirche verabredet. Sie ist der Ort, wo die Bieler ihren Fürstbischöfen jeweils ihre Huldigungen darbrachten und ihre Treueschwüre schwuren.
Das zentrale Chorfenster zeigt Glasmalereien aus dem 15. Jahrhundert, die die Passionsgeschichte Christi und Legenden aus dem Leben des Heiligen Benedikt darstellen. Die Bilder in der Reihe links sind mehrheitlich neu.
Wir gehen vorbei am Haus, in dem Jean-Jacques Rousseau sich im Oktober 1765 für kürzere Zeit aufhielt (seine Confessions enden ziemlich abrupt mit den Schilderungen dieses Aufenthalts), dann zum Dufour-Schulhaus, in dem der spätere Schriftsteller Robert Walser (1878-1956) unterrichtet wurde. Auf meine Frage, wer Walser gelesen hat, kommt von unserer Gruppe eine gemischte Reaktion. Nicht alle lieben seine Werke. Als ich spontan formuliere, Walser sei für mich bedrückend und beklemmend wie Kafka, aber ohne Verwandlung, sehe ich zustimmendes Lachen.
Lebensgeschichtlich gesehen ist die Rückkehr des Schriftstellers nach Biel nach seinem Aufenthalt in Berlin ein Scheitern. Der Schriftsteller lebt arm und allein in Mansarden und provisorischen Unterkünften und macht Spaziergänge. Bekannt werden seine Werke wieder nach seinem Tod.
Wir gehen in die verkehrsfreie Nidaugasse, früher eine Hauptverkehrsachse, und weiter zum Zentralplatz, heute zentral gelegen, einst am Stadtrand, aber so benannt, weil hier der erste Bahnhof der Centralbahn stand. Dort beachten wir das Kontrollgebäude, früher Edelmetallkontrollstelle, heute städtisches Verwaltungsgebäude, und den schnurgeraden Hochwasserkanal der Schüss, französisch la Suze.
Dann gehen wir weiter durch die Bahnhofstrasse, werfen auf der rechten Seite einen Blick ins denkmalgeschützte Café Odéon, das sich in den letzten fünfzig Jahren nicht merklich verändert hat, und gelangen zum Guisanplatz mit dem 1929 bis 1931 erbauten Treffpunkt des Unternehmertums, dem Hotel Elite, auf der einen Seite, und dem markanten Volkshaus aus rotbraunem Klinkerstein, Symbol für das Rote Biel, erbaut 1930-1932, auf der anderen.
Bald kommen wir zum Höhepunkt unseres Nachmittagsprogramms. Wir haben eine Führung vorgesehen im Maschinenmuseum am Wydenauweg, an einer Nebenstrasse zwischen Bahnhof und See.
Natürlich gibt es in Biel andere empfehlenswerte Museen, das Neue Museum Biel, das die Museen Schwab und Neuhaus vereinigt, vielleicht auch das Centre Pasquart, und gewiss die Cité du Temps, ein kostenlos zu besuchendes Museum, in dem ein Stockwerk der Marke Omega, das andere der Marke Swatch gewidmet ist.
Wir haben das Maschinenmuseum ausgewählt, weil es nur für Gruppen öffnet, und weil Maschinen für eine Industriestadt essentiell sind. Wenn Steinbeile Kultur sind, dann sind es auch die Werkzeuge des Industriezeitalters.
Die Maschinen werden uns von einem klugen Mann gezeigt, der für eine Maschinenfabrik gearbeitet hat und der bei jeder Maschine im zweistöckigen Gebäude erklären kann, wozu sie diente und wie sie funktionierte.
Die meisten Maschinen in der Sammlung produzierten für die Uhren- und Präzisionsindustrie. Meist ging es um Massenproduktion, oft um winzige Metallteile, wie sie beispielsweise für mechanische Armbanduhren verwendet wurden.
Die Bedienung vieler Maschinen erforderte keine besonderen Qualifikationen, aber sie verlangte konstante Aufmerksamkeit. Die Maschinen waren nicht nur laut, die Arbeit mit Öl auch schmutzig, ausserdem oft gefährlich, denken wir an die Stanzmaschinen, und nicht mit heutigen Sicherheitsstandards vereinbar.
Die Maschinen selbst sind oft ausgeklügelt. Sie mussten ja auch besser sein als die Maschinen der Konkurrenz. Sie zeugen jedenfalls vom Einfallsreichtum und vom Erfindergeist einer Stadt und einer Region, die keine Metalle erzeugt und doch eine Metall- und Uhrenindustrie aufbauen konnte, die auf dem Weltmarkt besteht.
Mit dem Besuch des Maschinenmuseums endet der offizielle Teil unseres Ausflugs. Ein Teilnehmer schlägt vor, zum See zu schlendern. Da sind wir dabei. Eine Mitreisende macht mich aufmerksam auf Gebäude, die vernachlässigt aussehen, und fragt, ob sie nicht ein Zeichen seien für den allgemeinen Niedergang der Stadt. Ich habe darauf im Moment keine Antwort.
Die Gründe dürften woanders liegen. Zwischen See und Stadt war während Jahrzehnten der Bau einer vierspurigen Autobahn mit zwei Anschlüssen auf städtischem Boden vorgesehen. 80 Millionen Franken wurden ausgegeben für die entsprechende Planung. Mit dem Westast der A5 sollte eine der letzten Lücken im Netz der Nationalstrassen geschlossen werden.
Die widerspenstige Stadtbevölkerung wehrte sich gegen die Pläne des Bundes und des Kantons. Die Lücke wird voraussichtlich eine Lücke bleiben. Das Projekt ist Ende 2020 gestorben und wird vermutlich nicht wieder auferstehen. Und so entsteht die Gelegenheit für eine Planung im Raum zwischen See und Stadt, die weniger ambitiös ist und sich weniger an den Bedürfnissen des Transitverkehrs orientiert.
Wer nach Biel will, wird immer einen Weg nach Biel finden. Aber an Biel vorbeifahren? Das wäre doch schade.
Sizilien, 29. Oktober – 14. November 2023
Bad Säckingen, 9. September 2023
Franche-Comté und Burgund, 5. bis 12. Juli 2023
Chambéry und Turin, 22. bis 30. April 2023
Neuchâtel (Neuenburg) und Môtiers, 18. Februar 2023
Glis, Brig und Raron, 17. September 2022
Bourges, Tours, Le Mans, Angers, Chartres, 3. – 11. September 2022
Zweisimmen und Blankenburg, 20. August 2022
Über die Alpen von Augsburg nach Trient, 9. – 17. Juli 2022
Einsiedeln und die Ufenau, 28. Mai 2022
Neapel und die Küste von Amalfi, 9. – 17. März 2022
Wettingen und Baden, 30. Oktober 2021
Rosinen der Renaissance in Italien, 2. – 9. Oktober 2021
Bulle und Gruyères, 18. September 2021
Gotische Kathedralen in der Champagne und der Picardie, 21. – 29. August 2021
Sommer in der Romandie, 3. – 10. Juli 2021
Tolstoi, Wagner und Nietzsche in Luzern, 12. Juni 2021
Genf – auf den Spuren von Calvin, Rousseau, und Dunant, 8. Mai 2021
Kulturreise Graubünden, 19.-25. Oktober 2020
Fribourg/Freiburg und Hauterive, 17. Oktober 2020
Was hat Bern im Jura verloren? Delémont, 15. August 2020
Kulturreise Tessin (Sopraceneri), 18.-23. Juli 2020
Burgdorf und Lützelflüh, 4. Juli 2020
Erasmus von Rotterdam in Basel, 20. Juni 2020
Ausflüge und Reisen in Zeiten des Virus, März 2020
Mailand, Pavia, Genua , 1.-8. Februar 2020
La Chaux-de-Fonds, 18. Januar 2020
Von Baku nach Bern auf dem Landweg, 20.-29. November 2019
Baku, Aserbaidschan, 13.-20. November 2019
Biel, Ligerz, Neuenburg, Dürrenmatt – 2. November 2019
Avenches und Saint-Maurice – 7. September 2019
Brugg, Habsburg, Königsfelden – 3. August 2019
Moudon, Ropraz, Jacques Chessex – 1. Juni 2019
Sursee, Buttisholz, Ruswil – 4. Mai 2019