Hier finden Sie die Berichte über alle unsere Ausflüge und Reisen der letzten sechs Jahre.
Wir stellen uns jeweils die Frage, was an einem besuchten Ort charakteristisch ist, und denken manchmal über Zusammenhänge nach, die auf den ersten Blick nicht naheliegend sind. Einen Anspruch auf Vollständigkeit haben unsere Berichte nicht. Sie ersetzen also nicht die handelsüblichen Reiseführer.
Wenn Sie sich für ein Reiseziel besonders interessieren, dann sehen Sie sich auch die Ankündigung der betreffenden Reise an in der Rubrik Verpasste Gelegenheiten.
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Konstanz, 22. Februar 2025
Wer mit dem Zug von der Schweiz aus in Konstanz ankommt, kann dem Zug entlang nach vorne gehen, gelangt zu einer Treppe und ist in einer Fussgängerunterführung, die zum Hafen führt. Bei unserem Besuch ist es vorfrühlingsmässig warm, eine fahle Sonne scheint, und der See liegt da wie ein stilles Meer.
Vorher haben wir bei der alten Hafenuhr Halt gemacht, die zur vollen Stunde die Melodie spielt, die zu einem tiefsinnigen Liedtext gehört, in welchem behauptet wird, dass Konstanz am Bodensee liegt.
Der Stadtrundgang durch Konstanz findet in Zusammenarbeit mit Walter Müller statt, der eine besondere Beziehung zu dieser Stadt hat.
Bei der Hafenuhr beachten wir das mächtige Kaufhaus oder Lagerhaus aus dem Jahr 1388, auch Konzilsgebäude genannt. Es wurde gebaut für den Handel mit Leinen. Das Gewebe wurde in Deutschland hergestellt, über den Bodensee verschifft und über die Alpenpässe nach Italien transportiert. Im Kaufhaus fand 1417 das Konklave statt, in dem Papst Martin V. gewählt wurde. Mit seiner Wahl war die Einheit der Kirche wiederhergestellt, zumindest bis zur Reformation. Das Konzil hingegen fand im Münster statt, nicht im sogenannten Konzilsgebäude.
Wir gehen weiter zum See und sehen dort die sich langsam im Kreis drehende, neun Meter hohe Betonfigur der Imperia. Imperia ist keine historische Persönlichkeit, sondern die literarische Hauptfigur in einer der Cent Contes Drolatiques, die Honoré de Balzac zwischen 1832 und 1837 veröffentlichte. Sie wurden deutsch mit dem Titel Dreissig tolldreiste Geschichten gedruckt, weil Balzac nur dreissig der geplanten hundert Geschichten schrieb.
Imperia ist in der Geschichte von Balzac eine Kurtisane, die auch gegenüber den mächtigsten Teilnehmern des Konzils von Konstanz ihren Willen durchsetzt. Dem 1947 geborenen, in der Bodenseeregion lebenden Künstler Peter Lenk hat die Geschichte offenbar gut gefallen, und seit 1993 steht die anfänglich umstrittene Statue der attraktiven Dame prominent am Hafeneingang. Sie trägt eine Narrenkappe, und auf ihren Händen sitzen kleine, nackte Männlein, nicht der Papst und der Kaiser gemäss Lenk, sondern Gaukler, die die entsprechenden Insignien der Macht tragen.
Der Konstanzer Ulrich von Richental berichtet über das Konzil von Konstanz (1414-1417) in einer 1420 veröffentlichten Chronik, die in 17 Abschriften erhalten ist. In ihr erfahren wir vieles über den Alltag des Konzils, so auch, dass 700 Dirnen sich um das sexuelle Wohlbefinden der Männer kümmerten, die am Konzil in der Kleinstadt teilnahmen.
Vom Hafen gehen wir zum Inselhotel, zum ehemaligen Dominikanerkloster. Die Fresken im Kreuzgang stammen aus den Jahren 1878 bis 1894, als das ehemalige Kloster und Fabrikgebäude schon ein Hotel war. Sie zeigen auf 26 Bildern die wirkliche oder vorgestellte Geschichte der Insel von den Pfahlbauern bis zum Besuch von Kaiser Wilhelm II.
Von der Insel begeben wir uns in die Altstadt, zum Wohnhaus der Malerin Marie Ellenrieder (1791-1863). Im Treppenhaus des Wohnhauses sind Malereien der Künstlerin erhalten, von der ausserdem ein Altarbild in der Konstanzer Dreifaltigkeitskirche erhalten ist. Nicht weit von ihrem Haus ist das Haus zum guten Hirten des Konstanzer Bildhauers Hans Morinck (1555-1616).
Wir gehen weiter bis zur verkehrsreichen Strasse Untere Laube, wo sich ein ungewöhnlicher Triumphbogen befindet, ein Ensemble von Skulpturen von Peter Lenk. Die ungeschminkte, ungenierte und nur minim übertriebene Darstellung der Menschenfiguren am Steuer und am Pool erinnert mich stark an die Zeichnungen des Österreichers Manfred Deix (1949-2016). Böse Karikaturen, hier nicht auf Papier, sondern in Beton, als Skulptur.
Anschliessend gehen wir zum Münster. Dort spreche ich kurz über die Geschichte der Stadt und des ausgedehnten Bistums. Länger ist dann mein Bericht über das Konzil. Dabei stütze ich mich auf das über 400 Seiten starke Werk des deutschen Kirchenhistorikers und Kardinals Walter Brandmüller: Das Konzil von Konstanz 1414-1418, Band 1, aus dem Jahr 1991 (den zweiten, 1997 veröffentlichten Band habe ich nur überflogen).
Um mit der Lektüre des Buches überhaupt beginnen zu können, musste ich mir zuerst einen Überblick über das abendländische Schisma 1378 bis 1417 verschaffen, also über die Zeit der Kirchenspaltung, in der es anfänglich zwei und dann sogar drei Päpste gab.
Zwischen 1304 und 1378 übte das französiche Königshaus einen entscheidenden Einfluss auf die Kirche aus. Die französischen Kardinäle waren in der Mehrzahl, alle Päpste waren Franzosen, und der Sitz der Päpste war Avignon. Es gab Bemühungen, die Kirche wieder nach Rom zurückzubringen, und endlich gelang dies im Jahr 1378.
Als die Kardinäle sich im Frühling 1378 in Rom trafen, um einen neuen Papst zu wählen, versammelte sich römisches Volk, um den Versammelten klarzumachen, dass kein weiterer Franzose als Papst geduldet würde. Die Kardinäle wählten darauf Bartolomeo Prignano, der den Namen Urban VI. annahm. Der machte sich unter den Kirchenfürsten sofort unbeliebt, weil er sie massregelte und 29 neue Kardinäle ernannte, darunter nur drei Franzosen. Die Kardinäle, die damit nicht einverstanden waren, trafen sich im Herbst 1378 und erklärten, sie seien bei der Papstwahl nicht frei gewesen. Sie setzten Urban VI. ab und wählen einen neuen Papst, einen Savoyer namens Robert von Genf, der den Namen Clemens VII. annahm. Da Urban VI. nicht zurücktrat, hatte die Kirche von nun an zwei Päpste, den einen in Rom, den anderen in Avignon. Beide Päpste hatten ihre Gefolgschaft. Beide Päpste starben, für beide wurden Nachfolger gewählt.
Im Jahr 1409 war der von Frankreich unterstützte Papst Benedikt XIII. aus dem Königreich Aragón, und der römische und nach Ansicht der heutigen Kirche legitime Papst Gregor XII. aus Venedig.
Um die Spaltung der Kirche zu überwinden, trafen sich 1409 in der Stadt Pisa Kardinäle aus beiden Obedienzen. Sie setzten die beiden Päpste ab und wählten einen dritten. Weil dieser bald darauf starb, wählten die Kardinäle nochmals einen dritten Papst, Baldassare Cossa, der sich Johannes XXIII. nannte.
Nach kirchlichem Verständnis sind Johannes XXIII. (Cossa) und Benedikt XIII. Gegenpäpste. Der Name Johannes XXIII. steht heute für Angelo Roncalli (1881-1961), zum Papst gewählt 1958, Initiator des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Der 1411 gewählte, aber erst im November 1414 in Aachen gekrönte deutsche König Sigismund aus der Dynastie der Luxemburger war nicht besonders fromm und in seiner Lebensführung keineswegs vorbildlich. Der Humanist und spätere Papst Enea Piccolomini bezeichnete ihn laut Brandmüller als egoistisch, labil und unaufrichtig. Aber Sigismund erkannte, dass er als einziger in der Lage war, die gespaltene Kirche zu einen. Da er wie jeder König seiner Zeit plante, sich in Rom vom Papst zum Kaiser krönen zu lassen, hatte er auch ein Interesse daran, dass die Kirche einen Papst hatte, der von allen anerkannt wurde.
Sigismund traf sich im Herbst 1413 mit Johannes XXIII. in Norditalien. Die beiden feierten dann sogar Weihnachten zusammen. Sie waren sich einig, dass es ein weiteres Konzil an einem sicheren Ort brauchte. Sigismund schlug Konstanz vor, der Papst war einverstanden. Er verfasste und verschickte eine Bulle, in der das Konzil für Allerheiligen des nächsten Jahres angekündigt wurde. Die verbreitete Vorstellung, Sigismund habe Johannes XXIII. zur Einberufung des Konzils gezwungen, weist Brandmüller zurück. Sigismund hatte keine Machtmittel dazu. Ein deutscher König, der nicht mit einer mächtigen Armee unterwegs war, hatte in Italien nichts zu sagen.
Die Lage von Papst Johannes XXIII. war zwar ebenfalls nicht komfortabel, weil Truppen des neapolitanischen Königs Ladislaus Rom im Juni 1413 eingenommen hatten, aber seine Autorität galt weiterhin im grössten Teil des Kirchenstaats. Ladislaus starb dann unerwartet im Sommer 1414, und im November 1414 waren die päpstlichen Truppen wieder in Rom.
Während Papst Johannes XXIII. im Kirchenstaat herrschte, lebte der bald neunzigjährige Papst Gregor XII. unter dem Schutz des Renaissancefürsten Carlo Malatesta in Rimini.
Im Oktober 1414 machte sich Johannes XXIII. auf den Weg zum Konzil. Ende Oktober war er am Bodensee, dann zog er feierlich in die Stadt ein und las im Münster gleich seine erste Messe. Er sah sich als der legitime Papst und stellte sich das Konzil von Konstanz als Fortsetzung des Konzils von Pisa vor. Johannes XXIII. hatte auch ein gutes Einvernehmen mit dem Herzog von Österreich Friedrich IV., der für seine Sicherheit besorgt war. König Sigismund und der Herzog hatten aber ein gespanntes Verhältnis zueinander, was sich für den Herzog und für Johannes XXIII. verhängnisvoll auswirken sollte.
Die versammelten Kirchenfürsten und Sigismund standen auch in Kontakt mit den beiden anderen Päpsten. Gregor XII. erklärte, er wäre bereit zurückzutreten, um der Einheit der Kirche willen, wenn die anderen Prätendenten auch zu einem solchen Schritt bereit wären. Johannes XXIII. seinerseits erklärte und schwor im Februar und anfangs März 1415, er sei für dieses Ziel grundsätzlich auch zum Rücktritt bereit.
Im März 1415 schlagen Delegierte von Papst Benedikt XIII. dem König ein Treffen in Nizza vor, um die Einheit der Kirche zu besprechen. Sigismund will Johannes XXIII. aber von möglichen Verhandlungen mit Benedikt XIII. ausschliessen, befürchtet ein Auseinanderfallen des Konzils und drängt Johannes XXIII. zur Unterzeichnung einer Rücktrittserklärung, die für diesen zu früh kommt oder zu weit geht. Sigismund lässt die Stadttore bewachen. Johannes XXIII. fühlt sich zunehmend eingeschränkt. In der Nacht vom 20. auf den 21. März verlässt er die Stadt, als Knappe des österreichischen Herzogs verkleidet, und begibt sich nach Schaffhausen. Von dort aus verlangt er Sicherheitsgarantien.
Sigismund will aber nicht verhandeln. Er verhängt die Reichsacht über Herzog Friedrich IV. Die Teilnehmer des Konzils, organisiert nach Nationen, übernehmen die Kontrolle über den Einigungsprozess. Sie erklären, dass von nun an das Konzil die Kirche vertrete und dass es dabei seine Gewalt direkt von Jesus Christus erhalten habe. Gleichzeitig beginnt in Konstanz eine Kampagne gegen Johannes XXIII. Er habe seinen Vorgänger Alexander V. vergiftet, heisst es, er habe mit der Frau seines Bruders Ehebruch begangen, verdanke seine Karriere der Simonie, also dem Ämterkauf, er sei ein Teufel in Menschengestalt.
Johannes XXIII. fühlt sich bald in Schaffhausen nicht mehr sicher, zieht weiter nach Laufenburg, dann nach Freiburg, Breisach, Neuenburg am Rhein. Die Verhängung der Reichsacht führt dazu, dass die Feinde von Herzog Friedrich IV. aktiv werden. Brandmüller erwähnt nicht, dass die Berner in wenigen Tagen die habsburgischen Stammlande im Aargau besetzen, aber das tun sie, und diese Gebiete verliert Habsburg für immer. Friedrich IV. sucht schleunigst eine Einigung mit dem König und unterwirft sich. Das Konzil setzt Johannes XXIII. ab und verurteilt ihn in einem Prozess, ohne ihn anzuhören. Johannes XXIII. verliert den Schutz des Herzogs, begibt sich nach Radolfzell am Bodensee, hört sich dort das Urteil des Konzils an, akzeptiert es und verbringt die nächsten vier Jahre als Gefangener. Kurz vor seinem Tod 1419 wird er entlassen und vergibt seien Widersachern.
Die früheren Anhänger von Johannes XXIII. und die Vertreter von Papst Gregor XII. einigen sich in Konstanz im Sommer 1415 über die Besetzung der Posten in der kirchlichen Verwaltung. Gregor XII. dankt im Juli 1415 ab.
Benedikt XIII. widersetzt sich, zieht sich auf die Festung Peñiscola bei Valencia zurück, ist dort zunehmend isoliert und stirbt 1423. Man wählt in Aragonien noch einen Nachfolger, aber dieser verzichtet 1429 und wird von Martin V. zum Bischof von Mallorca ernannt.
Das Konzil hat laut dem Autor nicht nur die Aufgabe, die Einheit der Kirche zu erlangen, sondern auch, Fragen des Glaubens festzulegen und Reformen anzustossen.
Die Lehren, die der Kirche Sorgen machen, sind die des 1384 verstorbenen englischen Theologen John Wyclif oder Wycliffe, die sich in Böhmen ausbreiten dank dem Theologen und Prediger Jan Hus. Laut dem Autor ist für Wyclif die Kirche nicht die Versammlung der Gläubigen, sondern die Versammlung der Auserwählten, congregatio praedestinatorum – wer aber zu den Auserwählten gehöre, zeige sich erst beim Jüngsten Gericht. Eine ähnliche Vorstellung treffen wir wieder bei Jean Calvin, mehr als hundert Jahre später. Kein Zufall, dass der Name Wyclif seit 2002 auf dem Reformationsdenkmal in Genf steht.
König Sigismund hatte Hus zwar freies Geleit nach Konstanz zugesichert, aber eine Erlaubnis zur straflosen Verbreitung von Häresien konnte im damaligen Europa niemand geben. Hus widerrief zwar vor dem Konzil alle Thesen von Wyclif, aber in einem Brief an seine Anhänger in Prag schrieb er: «Sollte es eintreten, dass ich abschwöre, so wisset, dass ich es nur mit dem Munde tue, und nicht im Herzen zustimmen werde». Der vermutlich echte Brief wurde abgefangen und vor dem Konzil vorgelesen. Die Glaubwürdigkeit von Jan Hus war damit beschädigt. Stephan Palec, Dekan der theologischen Fakultät in Prag, kannte seinen Kollegen Jan Hus gut und hatte seine Schriften gelesen. In ihnen hatte Hus auch behauptet, dass sich Brot und Wein nicht wirklich verwandelten beim Abendmahl. Weiter vertrat Hus offenbar die Meinung, dass die Sakramente wirkungslos seien, wenn sie von Priestern gespendet würden, die in der Sünde lebten. Für diese und ähnliche Thesen des Irrglaubens war Hus schon 1412 exkommuniziert worden. Da mag es erstaunen, dass Hus überhaupt nach Konstanz kommen wollte.
Brandmüller meint, man habe bei Jan Hus, anders als bei Johannes XXIII., einen fairen Prozess angestrebt und ihm mehrmals angeboten, seine Irrtümer zu bereuen. Dies habe Hus aber mit Hinweis auf sein Gewissen abgelehnt. Damit stellte Hus sein Gewissen über das Konzil, was nicht von einer demütigen Haltung zeugt, sondern von Selbstüberschätzung. Jedenfalls wurde Hus am 4. Juli 1415 bei lebendigem Leibe verbrannt. Sein Kollege Hieronymus von Prag erlitt dasselbe Schicksal am gleichen Ort am 30. Mai 1416. Die religiöse Situation beruhigte sich dadurch in Böhmen nicht. Aufständische Hussiten organisierten im Juli 1419 den Prager Fenstersturz, und die Versuche des neuen Papstes Martin V. zwischen 1419 und 1431, die Hussiten in fünf Kreuzzügen zu besiegen, scheiterten. Die hussitische Bewegung rieb sich dann aber in internen Spaltungen auf. Jan Hus blieb ein Held der Tschechen. Für ihn wurde 1915 mitten in der Altstadt von Prag ein monumentales Denkmal errichtet, und die Tschechische Republik betreibt mit dem Hus-Haus in Konstanz ein Museum, das gratis besucht werden kann, aber im Winter schon um 16 Uhr schliesst. Mein Fehler, dass wir dort bei unserem Rundgang zu spät ankommen – mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.
Im Münster, in dem wir uns mit dem Konzil beschäftigt haben, sehen wir uns nach einer Mittagspause die geschnitzte Kanzel an, den gotischen Treppenaufgang von 1438, den die Konstanzer Schnegg nennen, weiter die vergoldeten Kupferscheiben aus dem 11. und 13. Jahrhundert in der Krypta, die Jesus und die beiden Stadtpatrone Pelagius und Konrad darstellen, und schliesslich die sogenannte Mauritius-Rotunde mit einer um 1300 entstandenen zwölfeckigen Konstruktion in der Mitte, die das Heilige Grab in der Grabeskirche in Jerusalem darstellen soll.
Wir beachten bei einem nachmittäglichen Rundgang auch das Rathaus. Auf der Aussenfassade sehen wir wie schon erwähnt die Porträts der Malerin Ellenrieder und ihres Förderers Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg. Abgebildet sind auch der Humanist Ulrich Zasius und der Reformator Ambrosius Blarer (1492-1564).
Blarer entstammte einer alteingesessenen Familie und trieb in seiner Heimatstadt die Reformation voran. Der Fürstbischof musste die Stadt 1526 verlassen und verlegte seinen Sitz nach Meersburg. Nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg musste Konstanz aber 1548 vor der Armee von Kaiser Karl V. kapitulieren. Blarer und andere prominente Reformierte waren da schon in die Eidgenossenschaft geflohen. Die Stadt verlor ihren Status als freie Reichsstadt und wurde eine vorderösterreichische Landstadt ohne Hinterland, wie man auf einer Karte der zersplitterten Territorien sieht, die Vorderösterreich vor der Französischen Revolution abbildet. Die Bevölkerung musste wieder katholisch werden.
Weiter beachten wir bei unserem Rundgang das Geburtshaus von Guillaume Henri Dufour (1787-1875). Der österreichische Reformkaiser Josef II, Sohn von Maria Theresia, hatte Genfer Familien nach Konstanz eingeladen, um die lokale Wirtschaft zu beleben. Dufour, General im Sonderbundskrieg 1847, achtete darauf, dass es zu keinen Racheakten gegen die Besiegten kam und zu keinen mutwilligen Zerstörungen. 1863 war er einer der fünf Mitbegründer des Roten Kreuzes.
Dann gehen wir zur Dreifaltigkeitskirche, zur ehemaligen Klosterkirche der Augustiner, wo ein Fresko König Sigismund darstellt, der sich zur Zeit des Konzils im Kloster aufhielt.
Wir empfehlen allen, die an unserem Rundgang teilgenommen haben, den Besuch des Rosgartenmuseums. Neben vielen Fundstücken der Archäologie und Geologie in einem historischen Ausstellungsaal zeigt das Museum auch einen frühsteinzeitlichen Fund aus dem Kesslerloch im Kanton Schaffhausen, Bilder und ein Modell der mittelalterlichen Stadt sowie eine Abschrift der schon erwähnten Chronik des Ulrich Richental aus dem 15. Jahrhundert.
Was die 700 Dirnen betrifft, die Richental erwähnt, so haben wir darüber in der Darstellung des Kirchenhistorikers Brandmüller keine Zeile gefunden. Vielleicht haben wir nicht gut gesucht. Vermutlich interessierte die Kirche sich nicht für solch private Angelegenheiten. Die verheerenden Formen der Syphilis breiteten sich erst nach der Eroberung Amerikas in Europa aus. Über mögliche Gewissensbisse der Teilnehmer habe ich nichts gelesen, auch nicht, was die Verbrennung der Ketzer betrifft. Palec weinte zwar noch mit Hus in dessen Zelle, aber eine Alternative zur Verbrennung von Ketzern gab es nicht.
Zum Abschluss des Konzils gewährte der neugewählte Papst allen Teilnehmern einen vollkommenen Ablass, für den Fall, dass sie ein Jahr lang jeden Freitag fasteten. Die damals geltenden Fastenregeln (Fleisch, Eier, Milchprodukte?) sind mir zwar nicht bekannt. Aber ich gehe davon aus, dass alle Teilnehmer Konstanz frohgemut und ohne Schuldgefühle verlassen konnten.
Was hat sich seit dem Konzil von Konstanz verändert? Auf den ersten Blick alles. Wir würden Jan Hus heute nicht mehr verbrennen wegen Häresie.
Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Das schwarz-weisse Weltbild gilt zwar heute nicht mehr für den religiösen Bereich, aber es bleibt das vorherrschende Erklärungsmuster für komplexe Wirklichkeiten und bestimmt den politischen Diskurs. Tragische Konflikte und Kriege, bei denen es auf beiden Seiten Tote, Verletzte, also eigentlich nur Verlierer gibt, werden meist nur aus einer Opfer-Täter-Logik beurteilt.
Die europäischen Demokratien, die 1999 Belgrad bombardiert oder 2003 im Irakkrieg mitgemacht haben, konnten bis vor kurzem einen Angriffskrieg, den sie nicht selbst führten, nicht entschlossen genug verurteilen. In den Medien und in politischen Reden wurde Putin regelmässig mit Hitler vergleichen. So wurde die Öffentlichkeit auf den Dritten Weltkrieg eingestimmt. Dann kam die Enttäuschung, dass die USA selbst mit dem Teufel verhandeln und zu ihren Bedingungen für Frieden in Europa sorgen wollen.
Gibt es einen anderen Ausweg aus dem Konflikt? Die europäischen Führungseliten haben unerwünschte Desinformations- und Informationsquellen verboten, sich die Möglichkeit verbaut, die Wirklichkeit von beiden Seiten betrachten zu können. Stolz standen sie auf der richtigen Seite der Geschichte. Wichtig war ihnen ihre moralische Überlegenheit, ihr Seelenheil, in dem sie sich wohlfühlten, ohne Busse zu tun. Sie waren nicht gewillt, die verschiedenen Kriegsursachen rechtzeitig zu erkennen, anzusprechen, allen zuzuhören, im Dialog bei Problemlösungen zu helfen. Als der Krieg begann, bemühten sie sich um keine Verhandlungslösung, sondern lieferten Waffen und schwärmten von der strategischen Niederlage, die den Aggressor erwartete. Selber dafür sterben wollten sie aber nicht. Jedenfalls waren sie unfähig, einen bewaffneten Konflikt in Europa aus eigener Kraft zu beenden.
Und so ist Europa wieder hilflos und tragisch in der Sackgasse eines Krieges festgefahren. Strahlende Sieger gibt es bis jetzt auf keiner Seite. Zur Rettung braucht es Kräfte von aussen. Dieses Muster kennen wir von zwei Weltkriegen und von den 1990er Jahren auf dem Balkan. Wir erkennen es jetzt wieder in der Ukraine, wo jahrzehntelang alles getan wurde, um einen Krieg mit Russland zu provozieren, allerdings ursprünglich nicht von den Europäern, sondern von früheren amerikanischen Regierungen, wie Professor Jeffrey Sachs glaubhaft erläutert.
Ein Lichtblick in der europäischen Dunkelheit – so meine eigene schwarz-weisse Optik – ist die am 24. Februar 2025 angenommene Resolution 2774 des UNO-Sicherheitsrats, die erste völkerrechtlich bindende Resolution in diesem europäischen Krieg. Vielleicht bricht bald der Friede aus. Danke allen, die sich dafür einsetzen.
Und danke Walter Müller für die ungeahnten Einblicke in Konstanz.
Colmar, 5. Dezember 2024
Den vierten und letzten Tagesausflug in diesem Jahr 2024 haben wir ausnahmsweise nicht an einem Samstag, sondern an einem Donnerstag organisiert. Am Tag nach dem Sturz der Regierung von Premierminister Michel Barnier sind wir nach Colmar gereist und haben die Stadt in der oberrheinischen Tiefebene besser kennengelernt. Die politischen Umwälzungen in der Hauptstadt haben uns kaum berührt.
In Colmar findet in der Adventszeit ein Weihnachtsmarkt statt, der Besucherinnen und Besucher aus aller Welt anzieht – am Wochenende sind es dann jeweils zu viele. Die Werbung für den Ort läuft auf allen Kanälen der globalisierten Welt, und so meldet CNN Travel am Tag vor unserer Reise: There are plenty of wonderful Christmas markets to be found all over Europe. But few capture the imagination or revel in a fairytale setting quite like that of Colmar, in the Alsace region of France.
Wir treffen unsere Gruppe am Morgen im Zug, der kurz vor 9 Uhr morgens Basel verlässt. Draussen scheint die Sonne. Die feuchtkalten Nebel haben sich für unseren Besuch freundlicherweise etwas verzogen. Die Zugskomposition ist nicht neu, aber sie sähe gut aus, wenn sie von Zeit zu Zeit in eine Waschanlage gefahren würde.
Wir kommen in Colmar an, treten aus dem Bahnhof, blicken zurück und erblicken über dem Eingang die Keule des Herkules im Wappen von Colmar und die Jahrzahlen 1905 06. Der Bahnhof wurde gebaut, als Colmar wie das ganze Elsass zum deutschen Kaiserreich unter Wilhelm II gehörte.
Wir gehen vom Bahnhof geradeaus und kommen vorbei am Gebäude des Appellationsgerichts, erbaut zwischen 1902 und 1906 im Stil des Historismus. Der repräsentative Bau ist geeignet, um bei geringen Sündern und grossen Kriminellen Ehrfurcht vor der Justiz hervorzurufen.
Weiter gelangen wir zu einem Denkmal für den in Colmar geborenen Bildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi (1834-1904), das im Jahr 1907 eingeweiht wurde. Bartholdi kämpfte 1870 gegen die Deutschen und verherrlichte in seinem ersten Monumentalwerk, dem zwischen 1875 und 1880 in den Felsen gehauenen Lion de Belfort, den Widerstand Frankreichs gegen Deutschland. War er für die damaligen Behörden nicht ein Landesverräter? Sie erlaubten jedenfalls die Errichtung des Denkmals. Aus Grossmut, aus Toleranz, aus Opportunismus?
Im Park neben dem Denkmal steht ein massiver Wasserturm, erbaut in den Jahren 1884 bis 1886, der bis 1984 seinem ursprünglichen Zweck diente.
Wir gehen weiter, erblicken von weitem die Kapelle Saint-Pierre, die bis 1536 der Stiftskirche Payerne gehörte, und kommen schliesslich zum Flüsschen Lauch, auf dem Touristen in kleine Barken steigen. Wir gelangen in die malerische Altstadt, genauer in das Viertel, das sich la petite Venise nennt.
Das Flüsschen, die Fachwerkhäuser und allerlei Weihnachtsdekorationen bilden das fairytale setting, das hier eifrig fotografiert wird. Mein Bild zeigt die Stimmung an einem nebligen Morgen wenige Tage vor unserem Ausflug.
Wir gehen weiter durch belebte Gassen bis zum Martinsmünster, wo wir vor dem Tympanon über dem Portal der Südfassade halten. Dort wird auf einem Relief aus romanischer Zeit der Heilige Nikolaus von Myra dargestellt mit den drei jungen Frauen, die er mit seiner Grosszügigkeit, genauer mit drei Goldklumpen als zukünftiger Mitgift, vor dem Weg in die Prostitution rettet, und mit den drei Herren, welche sich dank dieser Grosszügigkeit motiviert zeigen, die drei Damen zu heiraten.
Von dort sind es nur wenige Schritte zum Musée Bartholdi, das der Stadt Colmar im Jahr 1907 vermacht wurde. Hier geht es wieder um den Schöpfer der Freiheitsstatue in New York, dessen Erbe wir in Colmar besuchen, statt für unsere Weihnachsteinkäufe nach New York zu fliegen.
Wir fragen uns, an welche Freiheiten Bartholdi und seine Förderer und Sponsoren seinerzeit gedacht haben, und sprechen über die politischen Freiheiten, die in den Vereinigten Staaten und in Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts formuliert wurden. Die Grenzen dieser Freiheiten erwähnen wir auch.
Dann besichtigen wir das Museum, das die Entwicklung des Bildhauers und den Entstehungsprozess der Freiheitsstatue mit vielen Original-Modellen und mit informativen Schautafeln dokumentiert. Ursprünglich träumte Bartholdi von einer Monumentalstatue an der Einfahrt zum Suezkanal. Realisiert wurde schliesslich die Statue La liberté éclairant le monde, das 1886 eingeweihte Geschenk der Republik Frankreich an die Vereinigten Staaten zum hundertjährigen Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung von 1776.
Nach einer Mittagspause besuchen wir das Musée Unterlinden, wo wir auf dem Weg zum Isenheimer Altar Bilder von Lukas Cranach (Melancholie) und Martin Schongauer (Orlier-Altar: die Verkündigung) betrachten.
Üblicherweise geben wir auf unseren Reisen und Ausflügen in Museen keine Kommentare zu einzelnen Kunstwerken ab. Beim Isenheimer Altar machen wir eine Ausnahme. Wir stellen den Heiligen Antonius vor, der sich als Einsiedler und Asket in die ägyptische Wüste zurückgezogen hatte, der dort von Dämonen angegriffen wurde und über den im 4. Jahrhundert berichtet wird. Im 11. Jahrhundert kamen die Reliquien des Heiligen in die Dauphiné und der Antoniterorden wurde gegründet, der sich um Menschen kümmerte, die wegen Vergiftungen mit dem Mutterkorn-Pilz an Ergotismus, am damals so bezeichneten Antoniusfeuer, erkrankt waren. Antonius wird meist mit einem Stab dargestellt, der am oberen Ende wie der griechische Buchstaben Tau geformt ist, und mit einem Schwein, weil die Schweine des Ordens Privilegien genossen, von denen andere Schweine nur träumen konnten.
Auch wenn vieles in den Altartafeln aus den Jahren 1512 bis 1516 erklärbar ist, bleiben doch Fragen offen. Welche Rolle spielt der mit Federn geschmückte, grüne Engel Luzifer im Konzert der Engel? Warum hält der musizierende Engel im Vordergrund den Bogen verkehrt? Spielt er himmlische Musik? Oder ist er mit dem Satan verbündet? Auch die Frage bleibt offen, die der von Dämonen geschlagene Antonius laut Legenda aurea ausspricht und die der Maler auf einem Zettel in lateinischer Sprache im Bild zeigt: Wo warst du, guter Jesus, warum bist du nicht erschienen, um meine Wunden zu heilen? Eine Frage, die sich die Kranken, die an schmerzhaften Geschwüren litten, wohl auch stellten.
Wir lassen die Mitreisenden ziehen, die die Weihnachtsmärkte besuchen wollen, und gehen noch in die nahe Dominikanerkirche. Dort kann die Madonna im Rosenhag von Martin Schongauer aus dem Jahr 1473 betrachtet werden, ein ruhiges, harmonisches Bild, das uns auch gefällt.
Wien, Ljubljana, Triest, 15. – 26. Oktober 2024
Normandie, 4. – 15. September 2024
Biel / Bienne, 24. August 2024
Sizilien, 29. Oktober – 14. November 2023
Bad Säckingen, 9. September 2023
Franche-Comté und Burgund, 5. bis 12. Juli 2023
Chambéry und Turin, 22. bis 30. April 2023
Neuchâtel (Neuenburg) und Môtiers, 18. Februar 2023
Glis, Brig und Raron, 17. September 2022
Bourges, Tours, Le Mans, Angers, Chartres, 3. – 11. September 2022
Zweisimmen und Blankenburg, 20. August 2022
Über die Alpen von Augsburg nach Trient, 9. – 17. Juli 2022
Einsiedeln und die Ufenau, 28. Mai 2022
Neapel und die Küste von Amalfi, 9. – 17. März 2022
Wettingen und Baden, 30. Oktober 2021
Rosinen der Renaissance in Italien, 2. – 9. Oktober 2021
Bulle und Gruyères, 18. September 2021
Gotische Kathedralen in der Champagne und der Picardie, 21. – 29. August 2021
Sommer in der Romandie, 3. – 10. Juli 2021
Tolstoi, Wagner und Nietzsche in Luzern, 12. Juni 2021
Genf – auf den Spuren von Calvin, Rousseau, und Dunant, 8. Mai 2021
Kulturreise Graubünden, 19.-25. Oktober 2020
Fribourg/Freiburg und Hauterive, 17. Oktober 2020
Was hat Bern im Jura verloren? Delémont, 15. August 2020
Kulturreise Tessin (Sopraceneri), 18.-23. Juli 2020
Burgdorf und Lützelflüh, 4. Juli 2020
Erasmus von Rotterdam in Basel, 20. Juni 2020
Ausflüge und Reisen in Zeiten des Virus, März 2020
Mailand, Pavia, Genua , 1.-8. Februar 2020
La Chaux-de-Fonds, 18. Januar 2020
Von Baku nach Bern auf dem Landweg, 20.-29. November 2019
Baku, Aserbaidschan, 13.-20. November 2019
Biel, Ligerz, Neuenburg, Dürrenmatt – 2. November 2019
Avenches und Saint-Maurice – 7. September 2019
Brugg, Habsburg, Königsfelden – 3. August 2019
Moudon, Ropraz, Jacques Chessex – 1. Juni 2019
Sursee, Buttisholz, Ruswil – 4. Mai 2019