Reiseberichte

Hier finden Sie die Berichte über alle unsere Ausflüge und Reisen der letzten sechs Jahre.

Wir stellen uns jeweils die Frage, was an einem besuchten Ort charakteristisch ist, und denken manchmal über Zusammenhänge nach, die auf den ersten Blick nicht naheliegend sind. Einen Anspruch auf Vollständigkeit haben unsere Berichte nicht. Sie ersetzen also nicht die handelsüblichen Reiseführer.

Wenn Sie sich für ein Reiseziel besonders interessieren, dann sehen Sie sich auch die Ankündigung der betreffenden Reise an in der Rubrik Verpasste Gelegenheiten.

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Sierre / Siders, 25. Oktober 2025

Für den Ausflug ins Wallis, das für seine Trockenheit bekannt ist, haben wir einen Regentag ausgewählt. Hoch über den farbigen Herbstwäldern erblicken wir zwischen Wolkenfetzen den ersten Schnee.

Die Landschaft von Siders ist das Resultat eines enormen Bergsturzes nach dem Ende der letzten Eiszeit. Zwischen den Schuttmassen bahnte sich die Rhone ihren Weg – beziehungsweise der Rotten, wie die Oberwalliser ihren Fluss nennen.

Dort, wo der Fluss seinen Lauf geändert hatte, hinterliess er kleine Seen. Auf den Schutthügeln im Talgrund, auf Vieux-Sierre, Plantzette und Géronde, bauten sich adelige Geschlechter im Mittelalter ihre Festungen. In verschiedenen Kriegen wurden die Burgen zerstört. Die Menschen siedelten sich in der Ebene an. So entstand die heutige Kleinstadt Sierre, deutsch Siders. Die Stadt liegt an der Sprachgrenze. Es gibt eine deutschsprachige Minderheit, aber keine offizielle Zweisprachigkeit. Die Amtssprache ist Französisch.

Wir treffen unsere Gruppe am Bahnhof, steigen die Treppe hoch zum ehemaligen Hotel Bellevue, heute Rathaus, und kommen zum Schloss der Viztume mit seinen vier Ecktürmchen, le Château des Vidomnes, Sitz der Vertreter der fürstbischöflichen Macht, hier bei Sonnenschein abgebildet. Dann gehen wir weiter zur Kirche Sainte-Catherine und schliesslich zum Haus de Courten, erbaut in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom letzten Obersten im Dienst des Walliser Regiments im königlichen Frankreich. Dort hat die Fondation Rilke heute ihren Sitz.

Literaturprofessor Marcel Lepper, Direktor der Stiftung, empfängt unsere Gruppe kurz vor 10 Uhr morgens, obwohl die Ausstellung im Haus eigentlich nur am Nachmittag geöffnet ist. Er erlaubt mir, eine kurze Einleitung zu machen zu René Karl Wilhelm Josef Maria Rilke (1875-1926), geboren im damals österreichischen Prag, zuletzt wohnhaft im mittelalterlichen Wohnturm von Muzot oberhalb von Sierre.

Ich erwähne, was mir bekannt ist über Rilkes Erziehung, über seine Beziehung zur vierzehn Jahre älteren Lou Andreas Salomé, über die verschiedenen Schaffensperioden und Schreibblockaden. Ich sage, dass ich einen Widerspruch sehe zwischen Rilkes pazifistischer Haltung und seiner Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, als Nummer 1 der Insel-Bücherei in hoher Auflage gedruckt kurz vor dem Ersten Weltkrieg.

Marcel Lepper führt uns durch die Ausstellung, die vor elf Jahren gestaltet wurde. Viele Schautafeln informieren über Rilke und seinen Bezug zum Wallis. Die Petrollampe stammt aus dem Wohnturm, auch das Stehpult des Dichters. Im Frühling 2026 wird die Ausstellung neu gestaltet.

Marcel Lepper spricht respektvoll, aber nicht unkritisch über den Dichter. Er erklärt, wie der urban und elegant gekleidete Dichter sein Leben in der Schweiz organisiert, wie es ihm gelingt, Gönnerinnen und Gönner zu konkreten Hilfeleistungen zu bewegen, wie er einen Ort sucht, in dem er in Ruhe schreiben kann, wie er schliesslich erreicht, dass man ihm den Turm von Muzot zur Verfügung stellt, wo es weder Strom noch fliessendes Wasser gibt, wo aber eine Haushälterin für ihn kocht und wäscht. Er zeigt, wie Rilke es versteht, Tausende Briefe zu schreiben und dabei Verehrerinnen und Verehrer auf Distanz zu halten.  Marcel Lepper spricht auch über die Phase im Februar 1922, als Rilke nicht nur die zehn Jahre zuvor begonnen Duineser Elegien beendet, sondern auch noch gleich die Sonette an Orpheus schreibt, und über die fortwährende Bekanntheit Rilkes, weit über den deutschen Sprachraum hinaus.

Dabei bewegen wir uns als Gruppe von einem Raum zum nächsten und dürfen auch einen Blick werfen auf Originalbriefe von Rilke, sorgfältig und schnurgerade geschrieben in deutscher Kurrentschrift auf unliniertem, aber ausgesuchtem Briefpapier.

Um 12 Uhr sind die Mitglieder unserer Gruppe erstaunt, dass wir uns zwei Stunden mit Rilke befasst haben, ohne dass es ihnen langweilig wurde.

Wer sicher ist, Rilke verstanden zu haben, hat Rilke nicht verstanden, sagt Marcel Lepper.

Ich finde die Aussage tröstlich. Wenn alle sich begeistern für Rilke, während ich nicht verstehe, was der Mann sagen will, dann komme ich mir dumm vor, als Versager. 

Warin liegt die Schwierigkeit des Verstehens? Braucht Rilke die Sprache nicht zum Schaffen von Klarheit, sondern als Nebelgranate? Will er uns in die Irre führen? Stiftet er eine babylonische Sprachverwirrung? Stiehlt er uns die Gewissheit, dass wir alles verstehen können? Streut er so seinen Sand ins Getriebe der Welt? Oder drückt er einfach aus, was ihm in Momenten der Inspiration in den dichterischen Sinn kommt? Und versteht er eigentlich selbst, was er geschrieben hat?

Wir verpflegen uns über Mittag und treffen uns anschliessend in der Kirche Sainte-Catherine wieder. Einige Glasfenster tragen die Unterschrift Edm Bille.

Edmond Bille (1878-1959) ist der Vater der Schriftstellerin Corinna Bille (1912-1979). Der Neuenburger Künstler Edmond Bille heiratete 1904 Elisa Mayor aus Clarens, die aus einer reichen Familie stammte, und hatte mit ihr zwei Kinder. Mit ihr zusammen baute er die Villa Le Paradou in den Weinbergen etwas erhöht über Sierre. Seine Frau starb 1911 bei der dritten Geburt. Der 34-jährige Künstler heiratete 1912 die 21-jährige Catherine Tapparel, die Kinderfrau, eine Bauerntochter aus Montana, die 1912 ihr erstes Kind gebar, Corinna.

Corinna wächst auf in einer inspirierenden Familie – ihr Vater nimmt während dem Weltkrieg Kulturschaffende auf, die nicht in den Krieg ziehen wollen. Er illustriert Publikationen von Charles-Ferdinand Ramuz, schafft Glasfenster für die Kathedrale von Lausanne und die Abteikirche Saint-Maurice. Corinna liest viel, schreibt seit ihrer Kindheit und beschliesst mit 16 Jahren, Schriftstellerin zu werden. Sie macht bei einer Filmproduktion mit, heiratet einen französischen Schauspieler, der sich aber nicht für sie interessiert. Sie kehrt in die Schweiz zurück, beginnt eine Beziehung zum Schriftsteller Georges Bourgeaud.

Dann lernt sie 1942 dessen Schulkollegen Maurice Chappaz kennen, der zwei Jahre jünger ist als sie. Mit ihm hat sie 1944 ihr erstes Kind, drei Jahre später heiraten die beiden. Mit Maurice Chappaz und Freunden durchstreift sie das Wallis. Sie haben Don Quichotte gelesen, fühlen sich als fahrende Ritter, lieben die Natur und sind wohl so etwas wie Vorläufer der Hippies. Maurice und Corinna verdienen wenig, aber bauen sich 1948/1949 ein Häuschen im Pfynwald.

Corinna Bille schreibt viel, publiziert bei kleinen Verlagen, bleibt aber lange unbekannt. In der Zeit des Aufschwungs nach dem Krieg hat das Wallis andere Prioritäten, und in Frankreich ist die literarische Provinz kein Thema. Aber 1974 erhält Corinna Bille den Prix Goncourt de la nouvelle für den Roman La Demoiselle sauvage. Im Oktober 1979 stirbt sie an Krebs. Ein halbes Jahr vor ihrem Tod erscheint das Buch Deux passions, das bis heute im Buchhandel erhältlich ist. Im Text Virginia 1891 erzählt sie die Liebesgeschichte ihrer eigenen Mutter, in Emerentia 1713 die berührende Leidensgeschichte des kleinen Mädchens Emerentia, das beschuldigt wird, eine Hexe zu sein.

Corinnas Ehemann Maurice Chappaz, der vehemente Kritiker der gnadenlosen Tourismusindustrie im Wallis, lebt noch bis 2009.

Beim Aufstieg ins Dorf Veyras sehen wir unterwegs von aussen die Villa Le Paradou, die lange zum Verkauf ausgeschrieben war und hinter der inzwischen ein Auto mit britischen Kennzeichen steht (im Bild ein Wasserspeier auf der Vorderseite des Gebäudes, bei einer früheren Gelegenheit fotografiert). Weiter oben am Hang erblicken wir das Haus, das sich die beiden Schriftsteller gebaut haben, nachdem Maurice zwischen 1955 und 1957 als Hilfsgeometer beim Bau der Staumauer Grande-Dixence Geld verdient hatte.

In Veyras hat auch der Maler Charles-Clos Olsommer gelebt, geboren 1883 als Charles-Léon in Neuenburg. Nach einer Ausbildung in La Chaux-de-Fonds (bei Charles L’Éplattenier), in München und in Genf lebt er nach 1912 in Veyras mit seiner Frau Veska und seinen fünf Kindern. Das ehemalige Wohnhaus der Familie ist heute ein Museum, das am Wochenende geöffnet ist. Die Ausstellung Âme – Amalgame zeigt Bilder über das Wallis, den Balkan und den Orient. Aus dem Balkan, genauer aus Bulgarien, stammt die Frau des Malers, Veska. Durch das Wallis und durch Bulgarien fuhr der Orient-Express.

Mich erinnern die Bilder etwas an die Bilder der sogenannten École de Savièse, als die Maler in Savièse und anderen Dörfern traditionelle Sujets malten, Frauen in Trachten beispielsweise, die sie dann an den Mittelstand im Mittelland verkauften. Da das katholische Wallis spät industrialisiert wurde und spät Anschluss an die kapitalistische Moderne fand, konnten hier Bilder einer vermeintlich heilen Welt entstehen, die sich anderswo gut verkaufen liessen. In der Ausstellung steht ein Satz von 1922 an der Wand: En peignant des types valaisans, je résoudrai ma vie matérielle. Was dachten sich wohl die types valaisans dazu?

Die Vorstellung, dass im Wallis ein besonderer Menschentypus lebt, war zeitweise verbreitet und wurde mit den historisch belegten Einfällen von Sarazenen im 10. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Gesichert ist, dass die Alpenübergänge schon in prähistorischer Zeit genutzt wurden und dass sowohl Caius Julius Cäsar als auch das römische Siegesdenkmal Tropäum Alpinum Völker im Wallis erwähnen, die sich zumindest durch ihren Namen von anderen Völkern unterscheiden. Da erstaunt es wenig, dass auch heute Unterschiede zwischen dem Wallis und der Üsserschwyz bestehen.

Gibt es Berührungspunkte zwischen Bille, Rilke und Olsommer? Lor Olsommer, Tochter von Charles-Clos und Veska und später selbst Künstlerin, ging mit Corinna Bille in den Kindergarten. Corinna gab als Elfjährige 1923 im Bellevue eine Klaviervorführung, bei der Rilke im Publikum sass.

Vom Musée Olsommer gehen wir weiter, bis wir aus einiger Distanz den mittelalterlichen Wohnturm von Muzot sehen, den Ort der grossen Inspiration des grossen Dichters. Der Turm gehört der Winterthurer Familie, die den Turm gekauft hat, um ihn Rilke zur Verfügung zu stellen. Er kann nicht besichtigt werden.

So machen wir denn rechtsumkehrt und verabschieden uns von denen, die schon genug gesehen haben und mit dem Bus nach Sierre zurückfahren. Wir gehen dem Hang entlang durch das Dörfchen Muraz und weiter bis zum Weiler Villa.

Unser Ziel ist das Schloss Villa, wo wir uns für eine Weindegustation angemeldet haben. Unsere Gruppe, zu diesem Zeitpunkt bestehend aus 16 Personen, wird von einem kompetenten Önologen über die Geschichte des Hauses informiert und zum Wein beraten. Die œnothèque Château de Villa verkauft die Weine von etwa 120 Walliser Produzenten. Bei der Degustation essen wir Stückchen fein geschnittenes Walliserbrot, trinken Wasser und, in dieser Reihenfolge, je eine Flasche Humagne Blanche, Petite Arvine, Rèze, Humagne Rouge und Cornalin (bio). Weine, die typisch sind für das Wallis, und die wir auch gerne empfehlen.

Ich danke dem Literaturprofessor, dem Önologen, der lokalen Führerin Liselotte und allen, die aus Interesse für die Kultur früh aufgestanden sind, um mit uns nach Siders zu fahren.

Ligne des Hirondelles, 8. – 10. Oktober 2025

Via Mala und Zillis, 31. August 2025

Schwyz, 31. Mai 2025

Kastilien mir der Bahn, 4. – 20. Mai 2025

Konstanz, 22. Februar 2025

 Colmar, 5. Dezember 2024

Wien, Ljubljana, Triest, 15. – 26. Oktober 2024

Normandie, 4. – 15. September 2024

Biel / Bienne, 24. August 2024

Thun, 29.Juni 2024

Rom, 13. – 22. Februar 2024

Aarau, 20. Januar 2024

Sizilien, 29. Oktober – 14. November 2023

Surselva, 21. Oktober 2023

Bad Säckingen, 9. September 2023

Franche-Comté und Burgund, 5. bis 12. Juli 2023

Schaffhausen, 20. Mai 2023

Chambéry und Turin, 22. bis 30. April 2023

Neuchâtel (Neuenburg) und Môtiers, 18. Februar 2023

Glis, Brig und Raron, 17. September 2022

Bourges, Tours, Le Mans, Angers, Chartres, 3. – 11. September 2022

Zweisimmen und Blankenburg, 20. August 2022

Über die Alpen von Augsburg nach Trient, 9. – 17. Juli 2022

Einsiedeln und die Ufenau, 28. Mai 2022

Neapel und die Küste von Amalfi, 9. – 17. März 2022

Lausanne, 19. Februar 2022

Wettingen und Baden, 30. Oktober 2021

Rosinen der Renaissance in Italien, 2. – 9. Oktober 2021

Bulle und Gruyères, 18. September 2021

Gotische Kathedralen in der Champagne und der Picardie, 21. – 29. August 2021

Sommer in der Romandie, 3. – 10. Juli 2021

Tolstoi, Wagner und Nietzsche in Luzern, 12. Juni 2021

Genf – auf den Spuren von Calvin, Rousseau, und Dunant, 8. Mai 2021

Sion, 6. März 2021

Kulturreise Graubünden, 19.-25. Oktober 2020

Fribourg/Freiburg und Hauterive, 17. Oktober 2020

Was hat Bern im Jura verloren? Delémont, 15. August 2020

Kulturreise Tessin (Sopraceneri), 18.-23. Juli 2020

Burgdorf und Lützelflüh, 4. Juli 2020

Erasmus von Rotterdam in Basel, 20. Juni 2020

Ausflüge und Reisen in Zeiten des Virus, März 2020

Mailand, Pavia, Genua , 1.-8. Februar 2020

La Chaux-de-Fonds, 18. Januar 2020

Montbéliard, 7. Dezember 2019

Von Baku nach Bern auf dem Landweg, 20.-29. November 2019

Baku, Aserbaidschan, 13.-20. November 2019

Biel, Ligerz, Neuenburg, Dürrenmatt – 2. November 2019

Solothurn – 5. Oktober 2019

Avenches und Saint-Maurice – 7. September 2019

Brugg, Habsburg, Königsfelden – 3. August 2019

Besançon – 6. Juli 2019

Moudon, Ropraz, Jacques Chessex – 1. Juni 2019

Sursee, Buttisholz, Ruswil – 4. Mai 2019

Trachselwald – 6. April 2019

Stadtrundgang Bern – 2. März 2019

Tulpen und andere Blüten – anfangs Februar 2019