Die Enthauptung auf der Aarebrücke – 5. Oktober 2019

Den Rundgang in und um Solothurn haben wir am vergangenen Samstag nicht nur durchgeführt, weil Solothurn sich rühmt, «die schönste Barockstadt der Schweiz» zu sein – eine Charakterisierung, die der ehemalige Denkmalpfleger des Kantons, Samuel Rutishauser, in seinem Kunstführer über Solothurn als «nicht zutreffend» bezeichnet.

Es ging uns auch um die Rolle, die Solothurn als Standort der französischen Botschaft zwischen 1530 und 1792 spielte, und um die Bedeutung des Ortes für das Söldnerwesen, das die barocken und klassizistischen Bauten finanzierte, die wir heute in der Stadt und der Umgebung bewundern können. Ich denke dabei zum Beispiel an die prächtige Jesuitenkirche von 1680-89, «Denkmal der Grosszügigkeit des allchristlichsten Königs Ludwigs des Grossen», wie an der Fassade unübersehbar in lateinischer Sprache verkündet wird.

Thematisch war der Rundgang auch eine Fortsetzung des Ausflugs nach Saint-Maurice vor einem Monat. Mauritius, der Anführer der Thebäischen Legion, mustert in Solothurn seit 1555 die Passanten als Brunnenfigur und verkörpert stolz die Vereinbarkeit von Krieg und Christentum.

Die heiligen Soldaten, die in Solothurn besonders verehrt werden, sind aber die Märtyrer Urs und Viktor aus dieser von Mauritius angeführten Legion. Ein Relief über dem Eingang der Sankt-Ursen-Kathedrale zeigt, wie die Heiligen geköpft werden.

Auf dem Relief des 18. Jahrhunderts findet die Enthauptung auf der Aarebrücke statt, und ich verstehe, dass die Solothurner sich ihre Stadt nicht ohne Aarebrücke vorstellen können. Denkmalpfleger Rutishauser ist da keine Ausnahme. Er schreibt, die nachweisbare Geschichte der Stadt beginne damit, dass «Kaiser Tiberius eine Strasse von Italien über den Grossen Sankt Bernhard nach Aventicum (Avenches), Vindonissa (Windisch) und Augusta Raurica (Augst) bauen liess. In Salodurum (Solothurn), wo sie die Aare überquerte, entwickelte sich rasch ein Vicus, ein kleinstädtisches Zentrum. Der genaue Standort der dazu notwendigen Brücke ist heute umstritten.»

Mein Problem: Ich kann die Notwendigkeit einer Brücke nicht einsehen.
Die Römerstrasse führte von Aventicum bekanntlich schnurgerade zur Siedlung Petinesca beim heutigen Dorf Studen südöstlich von Biel. Etwa eine halbe Stunde von dieser Siedlung entfernt muss sie den Ausfluss des Bielersees, die Zihl, überquert haben. Nachweislich führte von dort eine Römerstrasse durch den Pierre Pertuis über den Jura, während man die Spuren einer anderen Römerstrasse auf der Linie Port-Meinisberg-Altreu fand, von wo man ohne Hindernisse nach Solothurn gelangt und weiter dem Jurasüdfuss entlang nach Brugg / Vindonissa, wo die Aare an einer sehr engen Stelle einfach überbrückt werden konnte.

Zur Erinnerung: Vor der Juragewässerkorrektion floss die Aare nicht in den Bielersee und nicht aus dem Bielersee, sondern wild und ungebändigt durch die Ebene zwischen Aarberg und Solothurn. Es brauchte also bestimmt keine Aarebrücke zum Erreichen des römischen Vicus auf der Nordseite der Aare im heutigen Solothurn. Und hätte es sie gebraucht, dann hätte es noch eine weitere Brücke gebraucht irgendwo zwischen Petinesca und Büren an der Aare, um die römischen Legionäre und Zivilisten erst mal auf die Südseite des chaotischen Flusses zu bringen.

Wäre ich ein fauler Römer gewesen, hätte ich in Solothurn jedenfalls keine Brücke gebaut, sondern hätte mich mit einer Fähre für den Lokalverkehr begnügt. Aber vielleicht waren die Römer fleissig und bauten gerne Brücken.

Faul waren dagegen definitiv die Soldaten der Französischen Revolution und die Funktionäre der Helvetischen Republik in Solothurn.

Ich zitiere nochmals den ehemaligen Denkmalpfleger Rutishauser: «Nachdem die Franzosen 1798 auch in Solothurn einmarschiert waren, mussten auf Geheiss der damaligen aufklärerischen Regierung sämtliche Wappen und Insignien, die an das Ancien Régime erinnerten, entfernt werden», schreibt er.

Das Resultat der Faulheit: In der Klosterkirche der Visitation steht bis heute vor dem Chor ein Gitter, das überragt wird von den drei Lilien der Bourbonen-Dynastie. Diese Symbole der verhassten Könige habe ich in keiner Kirche in Frankreich gesehen. Hier stehen diese Lilien und erinnern mich an die Abertausenden von Schweizer Söldnern, die für die Könige gestorben sind. Auch die Franzosen haben das Schweizer Söldnerwesen bis heute nicht vergessen. Die Redewendung «Point d’argent, point de Suisse» gilt nicht als veraltet.

Man hat die Lilien, die vereinsamt in einer der vier Klosterkirchen stehen, wohl kaum je wahrgenommen oder aber schon vergessen. Kein Reiseführer erwähnt sie. Die Solothurner Bevölkerung kümmert sich nicht um bourbonische Lilien. Man sieht die Menschen am Samstag nicht in den Kirchen, sondern auf dem Markt. Die alte Innenstadt lebt, und das ist auch gut.