Blühende Sträucher, greller Sonnenschein, ein wolkenloser Himmel, weisse Bergspitzen. So empfängt uns die Walliser Kantonshauptstadt Sion / Sitten am 6. März. Am Bahnhofskiosk frage ich als Auswärtiger nach einer lokalen Zeitung. «Le nouvelliste», ist die Antwort der Dame, die mich bedient. Es gibt sie noch, die Tageszeitung, aber die Zeiten sind vorbei, in denen sie über den Schriftsteller Maurice Chappaz schrieb: «Le Valais a sa gangrène et son cancer, c’est Maurice Chappaz».
Es ging Chappaz damals, in den 1970-er Jahren, um die touristische Vermarktung des Wallis, um die Zerstörung, die durch die Profitgier angerichtet wurde, um die mafiösen Methoden bei der Durchsetzung von Interessen.
Der Walliser Chappaz hat sich die Frage gestellt, ob die Walliser anders sind, und er beschreibt sie in seinem «Portrait des Valaisans» 1965: «On ne se représente pas combien le Valaisan est un être à contrastes. C’est son secret intérieur qui le rend si violent. Il chancelle, il désire l’absolu. Il boit. Il est un Méridional des glaciers». In der Zeitung, die ich am Bahnhofkiosk kaufe, ist eine Seite dem Thema der häuslichen Gewalt gewidmet. Eine Mutter, die ihren Sohn nicht mehr verhauen will, gesteht: «J’ai toujours eu une énergie volcanique…»
Gegenüber dem Bahnhof sammeln wir uns als Gruppe von insgesamt 11 Personen um einen Stadtplan von Sion. Erstmals haben wir auch zwei Hunde dabei, die sich für Kultur interessieren und gleich an mehreren Stellen mit archäologischen Grabungen beginnen.
Nach einer kurzen Erinnerung daran, dass das Wallis zwischen Bern und Italien liegt, dass die Rhone ins Mittelmeer fliesst, dass das Wallis also durchaus dem meridionalen Gebiet zuzurechnen ist, beginnen wir – vorsichtig – einen Stadtrundgang, der uns zuerst zum Landsitz des Landesschreibers und Machtpolitikers Georg Supersaxo (um 1450 bis 1529) bringt, auch als «Maison du Diable» bekannt. Eine Gelegenheit, um daran zu erinnern, wie und warum die Walliser und die mit ihnen verbündeten Eidgenossen in die Mailänder Kriege verwickelt waren, die 1494 begannen und zu denen die Niederlage von Marignano 1515 gehört. Im Haus, das der Bourgeoisie de Sion gehört, ist heute die Fondation Fellini untergebracht. Ein Walliser hat jahrelang mit Federico Fellini gearbeitet, dabei ist eine bedeutende Sammlung von Erinnerungsstücken an den Filmemacher zusammengekommen. Ohne die Pandemie mit ihrem Verbot von Treffen in Innenräumen hätten wir uns wohl um ein Treffen bemüht.
Aber so machen wir uns gleich wieder auf zum Stadthaus des Georg Supersaxo. Unterwegs weist uns eine freundliche Stadtbewohnerin auf die Pflästerung hin, die auf der Place du Midi die abgebrochene Stadtmauer anzeigt. Leider sind die Restaurants und Cafés auf dem Platz wegen der Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie noch geschlossen.
Wir gehen weiter, sehen uns das Flüsschen Sionne an bei der Place des Tanneries, zwängen uns in die Ruelle du Guet, bemerken den Wachtturm, der von der Stadtbefestigung übriggeblieben ist, und stellen uns an der Rue de Lombardie an die Sonne. Wir erzählen über das Tal, das die Römer «Vallis Poenina» nannten, nach dem keltischen Berggott Poeninus, der mit dem obersten Gott der römischen Götterhierarchie identifiziert wurde. Auf dem Grossen Sankt Bernhard fand man Votivtafeln römischer Militärangehöriger, dem Jupiter Optimus Maximus Poeninus zum Dank gestiftet. Bis im Mittelalter hiess der Pass Mons Iovis beziehungsweise Mont-Joux, also Jupiterberg. Man kann also sagen, dass der Olymp der alten Römer im Wallis liegt. Auf dem heiligen Berg leben auch heute Mönche und betreiben ein Hospiz auf 2473 Metern über dem Meer, auch im Winter, wenn die Passstrasse geschlossen ist.
Ich erwähne weiter, dass der erste Bischof des Wallis, Theodul, um 380 den Kult der Thebäischen Legion begründet, dass der Bischof den Sitz des Bistums im 6. Jahrhundert nach Sion verlegt, dass die Sarazenen im Jahr 972 in Orsières den Abt von Cluny entführen.
Dann zeigen wir in der Supersaxo-Passage den Eingang zum Stadthaus des gleichnamigen Politikers, das genauso hermetisch geschlossen ist wie die umliegenden Restaurants. In der Passage leuchtet ein Porträt des Georg Supersaxo und ein Bild der prachtvollen Renaissancedecke mit einem Bild der Madonna und einer Inschrift von Vergil, deren direkter Anblick uns verwehrt ist.
Georg Supersaxo war der Sohn des Bischofs und Landesherrn Walter Supersaxo (1402-1482) aus Ernen, der 1474 Bündnisse abschloss mit Mailand, Venedig und Florenz und 1475 mit Bern. Der Bischof hatte die Rechte eines Landesherrn, aber er herrschte nicht allein, sondern musste im Lauf der Zeit mehr und mehr Kompetenzen abtreten an die sieben Zenden (Kleinstrepubliken) Goms, Brig, Visp, Raron, Leuk, Siders und Sitten. Im November 1475 schlugen die Soldaten des Bischofs und der Zenden und dreitausend Berner zusammen ein savoyisches Heer auf der Planta und sorgten dafür, dass die Grenze zu Savoyen vom Flüsschen Morge bei Conthey ins Unterwallis verschoben wurde.
Vom Supersaxo-Haus ist es nicht weit zum Rathaus aus dem 17. Jahrhundert mit seiner astronomischen Uhr. Auf der aus Nussbaumholz geschnitzten Renaissancetür ist das Urteil des Salomo dargestellt, und auf der Seitentüre erscheint die Gerechtigkeit wieder, mit verbundenen Augen, mit der Waage und dem Schwert. In der Eingangshalle befinden sich römische Inschriften, die die Seduner dem Kaiser widmen und, datiert auf das Jahr 377, ihrem Gouverneur, der ein Gebäude renoviert hat – diese Inschrift ist versehen mit einem Chrisma (die griechischen Buchstaben XP für Christos zwischen Alpha und Omega), möglicherweise handelt es sich dabei um die älteste christliche Inschrift auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Zugänglich sind die Inschriften von Montag bis Freitag. Die BewohnerInnen der Stadt heissen auch heute les Sédunoises beziehungsweise les Sédunois.
Gegenüber dem Rathaus führt die Rue de l’Eglise zur Kirche Sankt Theodul. Die Kirche wurde unter Bischof Matthäus Schiner neu erbaut vom bekannten italienischen Baumeister Ruffino alias Ulrich Ruffiner. Gleich rechts neben dem Eingang ein Bild aus dem 16. Jahrhundert: Karl der Grosse schenkt dem Heiligen Theodul die gräflichen Rechte über das Wallis. Ein Bild, das Personen aus verschiedenen Epochen durcheinanderbringt. Die gräflichen Rechte wurden dem Bischof im Jahr 999 von König Rudolf III von Burgund verliehen.
Der Erbauer Matthäus Schiner hatte einen Onkel, Bischof Nikolaus Schiner, dessen moderner Grabstein vorne rechts in der Kirche steht.
Matthäus Schiner wurde um 1465 in Mühlebach bei Ernen geboren und 1489 zum Priester geweiht, nicht im Wallis, sondern in der heiligen Stadt Rom. Seine Karriere im Wallis: Kaplan von Ernen, Notar, ab 1492 Kanzler des Walliser Landschreibers Georg Supersaxo, 1496 Pfarrer von Ernen und Domherr von Sitten, 1497 Dekan von Valeria, 1499 Nachfolger seines Onkels als Bischof von Sitten und Graf von Wallis. Schiner und Supersaxo wurden Feinde, als Supersaxo im Konflikt in Oberitalien 1505 die Seite wechselte und wohl dank finanziellen Anreizen begann, die Ansprüche der französischen Krone auf Oberitalien zu unterstützen, während Schiner weiterhin die päpstliche und kaiserliche Seite unterstützte. Schiner ermutigte die rauflustigen Innerschweizer zur Teilnahme an der Schlacht von Marignano. Sie unterlagen, 9000 oder 10,000 Mann liessen ihr Leben. Die Niederlage schwächte Schiners Position im Wallis. Trotzdem: auch heute sieht man Schiners Familienwappen nicht nur auf dem Grabstein seines Onkels, es wird auch von einem Engel gehalten, der den Eingang zum Chor bewacht, erscheint auf den Schlusssteinen im Chor und am Nordportal der Kirche.
Ein Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens zeigt, wie Herbert Volken, Regierungsstatthalter im Goms, von SRF als «Walliser Schlitzohr» vorgestellt, 2015 in Rom die Leiche von Matthäus Schiner sucht, um sie ins Wallis zurückzubringen. Bekannt ist, dass Schiner ausserhalb des Wallis Karriere gemacht hat. 1507 war er päpstlicher Gesandter am Reichstag von Konstanz, 1511 wurde er Kardinal, 1512 Verwalter der Diözese Novara. Als späterer Oberbefehlshaber der päpstlichen Armee steht er auch am Ursprung der päpstlichen Schweizergarde. Er gilt als Mitverfasser des Wormser Edikts gegen Luther 1521, wurde 1522 fast Papst, starb aber kurz darauf in Rom – an der Pest, vielleicht auch an Syphilis.
Die Kathedrale gleich daneben hat einen auffälligen romanischen Kirchturm. In der Verlängerung des südlichen Seitenschiffs, in der Kapelle von 1474, die der heiligen Barbara gewidmet ist, liegt Walter Supersaxo begraben, Vater des mächtigen Georg Supersaxo.
Die Leiche des Kardinals hingegen wurde wohl in Rom nicht gefunden. Jedenfalls ist es still geworden um die Pläne, sie im Triumpf ins Wallis zurückzuschaffen.
Vom Eingang der Kirche Sankt Theodul sind es ein paar Schritte zum Denkmal, das zur Feier der hundertjährigen Zugehörigkeit des Wallis zur Schweiz 1915 errichtet wurde. Es zeigt die breite Figur einer soliden Walliserin in der Tracht des Dorfes Savièse, die eine Blumengirlande in beiden Händen hält. Geschaffen wurde sie vom Genfer Bildhauer James Vibert (1872-1942), der auch die Statue des Schwures der drei Eidgenossen im Treppenaufgang des Berner Bundeshauses geschaffen hat.
Savièse ist ein Dorf oberhalb von Sitten, in der sich um 1900 verschiedene Künstler niederliessen, die als Ecole de Savièse bekannt wurden. Ein ausgezeichneter Ausstellungskatalog von 2012 stellt die wichtigsten Werke dieser Künstlerkolonie, die sich nicht einem einheitlichen Stil verpflichtet fühlte, vor. Der Autor des Werkes thematisiert die Ausrichtung der meist auswärtigen Künstler, die im Wallis eine vergangene bäuerlich-heile Welt, ein verlorenes Paradies suchten und darstellten. Einige der Werke gehören zur Sammlung des Kunstmuseums und hängen im historischen Gebäude, das früher als Residenz des Bischofs diente.
Bekannt sind in Sion die beiden Hügel Tourbillon und Valère über der Stadt. Valeria, die erste Bischofskirche, wird renoviert, die Renovation soll 2022 beendet sein.
Offen sind zurzeit trotz Pandemie das Kunstmuseum, das historische Museum auf dem Valeria-Hügel und, besonders empfohlen, bis Ende Mai die Ausstellung «Destination Collection» im ehemaligen Gefängnis («Pénitencier»).
Das Wallis ist die einzige Gegend der Schweiz, in der die traditionelle Landwirtschaft auf Bewässerung angewiesen ist. Chappaz erzählt in seinem Buch den schönsten Tod im Wallis. Ein Arbeiter repariert im Frühling mit seinen Kollegen an einem steilen Felshang eine Bisse, eine Bewässerungsleitung, dabei wird gegessen und getrunken, der Mann ist nicht mit einem Seil gesichert, er gleitet aus, er stürzt in den Abgrund. Er ruft nicht um Hilfe, schreit nicht «Jesus Maria». Was seine Freunde noch hören, so Chappaz, ist: «Au revoir les amis».
An einen Ort, wo Freundschaft einen so hohen Stellwert hat, sollte man zurückkehren.