Mailand, Pavia, Genua, vom 1. Februar bis zum 8. Februar 2020
Wir haben fünf Nächte und vier Tage in Genua verbracht. Diese Zeit braucht es, um die Stadt kennenzulernen.
Natürlich eignet sich Genua auch für einen kürzeren Aufenthalt. Von Bern aus ist die Hafenstadt mit dem Zug in fünfeinhalb Stunden zu erreichen. Nirgends ist man von der Deutschschweiz aus schneller am Meer. Genua ist sozusagen unsere Hafenstadt.
Da wir slow travel bevorzugen, planten wir auch für die Reise nach Genua mehr Zeit ein: nicht fünfeinhalb Stunden, sondern zweieinhalb Tage.
Aber der Reihe nach. Im Zug Basel-Bern-Mailand treffen wir am frühen Morgen unsere kleine Gruppe. Nach drei Stunden kommen wir in Mailand an. Wenige Schritte vom Hauptbahnhof liegt unser Hotel an einer ruhigen Nebenstrasse. Wir haben wieder Glück: obschon es erst kurz vor elf Uhr ist, sind unsere Zimmer schon bereit.
Unterwegs haben wir bei einem Tabakhändler die Tageskarten für die U-Bahn gekauft, und bald sind wir auf dem Domplatz. Vor uns steht die grösste Kirche der Republik Italien, ein Gebirge aus Marmor (der Petersdom, der noch etwas grösser ist, steht ja im Vatikan).
Wir besuchen aber nicht den Dom, den die meisten Teilnehmer schon kennen, sondern sehen uns die Fassade an und das grosse Bronzeportal, an dem der Krieg seine Spuren hinterlassen hat. Dann verzehren wir heisse Panzerotti bei Luini in einer Seitenstrasse, trinken an der Stehbar des Gran Caffè Visconteo einen Kaffee und entdecken an der Via Torino die alte Kirche Santa Maria presso San Satiro, die ihr gegenwärtiges Aussehen zur Zeit der Renaissance erhielt. Wir bewundern dort vor allem die meisterhaft geschaffene Illusion von Raum.
Wir schlendern zurück über den belebten Domplatz, durch die Galleria Vittorio Emmanuele, an der Scala und an der Casa degli Omenoni vorbei, dann stehen wir vor dem Wohnhaus des Schriftstellers Alessandro Manzoni. Nach einer Einführung über den Schriftsteller in deutscher Sprache schliessen wir uns einer italienischsprachigen Führung an.
Wir haben nochmals Glück: Kein Mitglied der Gruppe braucht eine Übersetzung, alle verstehen die Sprache.
Die alten und jungen Italienerinnen und Italiener, die das Haus besuchen, wollen mehr erfahren über den Mann, dessen Werke sie in der Schule gelesen haben. Warum aber ein Bild von Goethe in der Ausstellung? Es weist darauf hin, dass der Deutsche sich zu Manzonis Hauptwerk I promessi sposi sehr positiv äusserte und eine frühe Übersetzung 1827 förderte. Manzoni war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Sprachpolitiker. Für das geeinte Italien, für das er sich einsetzte, forderte er eine überregionale, nationale Sprache, die für alle sozialen Schichten verständlich sein sollte.
Nach dem Besuch bei Manzoni gehen wir in der Stadtgeschichte fast eineinhalb Jahrtausende zurück und kommen zum heiligen Ambrosius (340-397). Der Gouverneur, als Sohn eines römischen Beamten in Trier geboren, wollte eigentlich nur schlichten zwischen Arianern und Trinitariern. Als er dann in der kaiserlichen Residenzstadt Mailand zum Bischof gewählt wurde, musste er um Verabschiedung aus dem Staatsdienst ersuchen und sich erst taufen lassen. Der Stadtheilige liegt in der Kirche Sant’Ambrogio begraben, seine Überreste sind unter dem Altar ausgestellt. Für den Besuch der Kirche sollte man genügend Zeit einplanen, um die Kunstwerke aus unterschiedlichen Epochen nicht zu übersehen und um die Atmosphäre der Kirche auf sich wirken zu lassen. Die Architektur beindruckte auch jenseits des Atlantiks: Für die University of California in Los Angeles wurden Innenhof und Kirche nachgebaut, allerdings mit symmetrischen Türmen.
Am Abend dann ein Vorgeschmack von Meer: im Restaurant Le Delizie del Mare gleich ausserhalb der spanischen Stadtmauer sind die ungewöhnlichen Fische, die wir später verspeisen, auf Eis ausgestellt, und wir werden leidenschaftlich bewirtet.
Am nächsten Morgen eine kurze Bahnfahrt nach Pavia. Flaches Land im Nebel. Es ist Sonntag. Auch hier sind die Hotelzimmer bereit. Das kompakte Stadtzentrum ist nicht ausgestorben, und auf dem Markt gegenüber dem Dom bricht die Sonne durch den Nebel. Ein kleiner Abstecher zur gedeckten Brücke über den Fluss Ticino, dann ein Besuch in der Kirche San Michele, einem Meisterwerk der romanischen Architektur. Sizilianischer street food auf dem Weg zurück zum Bahnhof, dann eine kurze Fahrt mit der S-Bahn zur Certosa di Pavia.
Das Gelände des Kartäuserklosters ist riesig. Zu Fuss geht man 25 Minuten an der hohen Klostermauer aus Backsteinen entlang, erblickt dabei Bäume im Nebel zwischen terrassierten Reisfeldern.
Beim Eingang zum Kloster fällt zuerst die reiche Renaissance-Fassade der Kirche auf. Unten stellen Medaillons Persönlichkeiten der Antike dar. Auch das Wappen der Visconti-Dynastie fehlt nicht: eine Schlange, die einen Sarazenen verschlingt. Beim Eintreten erblickt man ein gotisches Kirchenschiff, erbaut von den Mailänder Herzögen, die sich hier begraben liessen. Von den Gebeten der Mönche erwarteten sie einen verkürzten Aufenthalt ihrer Seelen im Fegefeuer. Zwei trompe l’oeil-Malereien zeigen Mönche, die von oben das Treiben in der Kirche beobachten.
In der ungeheizten Kirche stauen sich italienische Besucher beim Gitter zum Chor. Die Bevölkerung liebt ihre Kulturdenkmäler. Ein Zisterziensermönch steigt auf einen Schemel, schildert die Geschichte und das Leben der Kartäuser, zeigt die Gräber der Herzöge, das Refektorium mit einem Bild des Abendmahls, den Kreuzgang und die Zellen der Mönche, angeordnet um einen Innenhof mit Rosenbüschen.
Aufgepasst bei der Fahrt zurück: an der Bahnstation Certosa gibt es keine Unterführung. Zurück in Pavia haben wir Zeit, uns auszuruhen, später treffen wir uns, gehen zur historischen Piazza della Vittoria im Zentrum. In der Pizzeria Bella Napoli werden rasch Tische aneinandergerückt, das Essen ist ausgezeichnet und preiswert. Als wir das Lokal verlassen, ist es voll.
Montagmorgen in Pavia. Zu Fuss gehen wir durch die Gassen, vorbei an der Backsteingotik der Carmine-Kirche zur Kirche San Pietro in Ciel d’Oro ausserhalb der ehemaligen Stadtmauern. Pavia war die Hauptstadt der Langobardenkönige, die der Lombardei ihren Namen gegeben haben. Der 744 gestorbene Liutprand ist hier begraben. Er hat den Sarazenen die sterblichen Überreste des Kirchenvaters Augustin abgekauft, dessen prächtiges Grabmal den Chor der Kirche dominiert.
Augustinus von Hippo (354-430), im Gebiet des heutigen Algeriens geboren, hat seine Bekehrung zum Christentum in seinen Confessiones als Autobiographie beschrieben. Seine Vorstellungen von der Dreieinigkeit Gottes, von der Erbsünde und von der Hölle haben die westliche Christenheit während Jahrhunderten geprägt.
In der Krypta liegt Boethius, italienisch Boezio, begraben (Lebensdaten: um 480/485 bis 524 oder 526). Sein Werk De consolatione philosophiae («Trost der Philosophie») schrieb der zum Tod verurteilte Philosoph beim Warten auf seine Hinrichtung. Trost erhielt er von der Philosophie der Antike, die er umfassend darstellte. Obwohl er das Christentum als Quelle des Trosts kaum erwähnte, wird er doch als christlicher Märtyrer verehrt.
Kaffee trinken wir gegenüber der 1361 gegründeten Universität, dann fahren wir mit dem Zug weiter nach Süden, über die Flüsse Ticino und Po und über den Apennin nach Genua.
Neben dem Hotel steht die Statue von Giuseppe Mazzini hinter dem Strassenschild «Via Grenchen». Anlass für eine Darstellung der Biographie des republikanischen Helden, der 1805 in Genua geboren wurde und sich 1835/36 in Grenchen aufhielt. In der Nähe der Palast Doria-Spinola, Sitz der Verwaltung (prefettura della città metropolitana). Der Palast ist einer der 42 Paläste, die in Genua heute als UNESCO-Weltkulturgut gelten und die seinerzeit auf Listen («Rolli») privater Luxusresidenzen standen, in denen die Republik Genua ausländische Staatsgäste unterbringen konnte. Der Palast aus dem 16. Jahrhundert gibt einen ersten Eindruck vom ausserordentlichen Reichtum der Stadt. Auf die Wände unter den Arkaden des ersten Stockwerks sind Pläne gemalt von italienischen Städten, aber auch von Antwerpen und Jerusalem.
Unser Spaziergang führt dann durch die Gassen der Altstadt zur Piazza Banchi, einem Ursprungsort des Bankenwesens, und zum Palazzo San Giorgio im Hafen, wo eine Tafel daran erinnert, dass der venezianische Kriegsgefangene Marco Polo hier einem Mitgefangenen von seinen Reisen erzählt hat zur Zeit der Jahrhundertwende vom 13. zum 14. Jahrhundert. An der Fassade prangt ein Gemälde des Heiligen Georg. Das Georgskreuz ist bis heute die Flagge der Stadt. Weil die genuesischen Schiffe im Mittelmeer gefürchtet warden, bat England darum, die Flagge benutzen zu können, und zahlte den Genuesen jahrhundertelang dafür eine Abgabe.
Den nächsten Tag in Genua reservieren wir für die Paläste, dabei beginnen wir im Palazzo Spinola – Galleria nazionale. Fresken, Skulpturen, geographische Karten, Keramik, Möbel, und Gemälde sind zu sehen – neben lokalen Malern wie Luca Cambiaso, Gregorio De Ferrari und Bernardo Strozzi sind wohl vor allem Luca Giordano, Antonella da Messina, Guido Reni, Joos van Cleve und Anton van Dyck erwähnenswert. Anschliessend besuchen wir mit einigen Teilnehmern die Paläste der Strada Nuova und den Königspalast (Palazzo Reale), auch dort Gemälde, die sich lohnen: Caravaggio, Rubens. Die protzige Architektur und die meist schwülstig überladenen Gemälde und Fresken des 16. und 17. Jahrhunderts sind für Besucher aus dem protestantischen Norden allerdings gewöhnungsbedürftig.
Unseren Teilnehmern gefällt hingegen das Museo del Mare, das wir am folgenden Tag besuchen nach einer kurzen Einführung über die gegenwärtige Migration im Mittelmeerraum. Die Ausstellung präsentiert nicht nur verständlich und ausführlich die Geschichte der genuesischen Schifffahrt und den Aufstieg Genuas zur Herrscherin des Mittelmeers, sondern auch die Emigration nach Amerika.
Am Nachmittag ein Spaziergang an der Strandpromenade von Nervi. Intensiver Sonnenschein, Wärme. An der Bahnhofstrasse von Nervi hängen grell leuchtende Orangen an den Bäumen. Wir besuchen die Wolfsoniana, die Sammlung eines amerikanischen Diplomaten mit Möbeln, Gemälden, Drucken und Statuen zwischen Art Déco und Faschismus, und die Galleria d’Arte Moderna. Die Pärke von Genua sind wegen starkem Wind (Tramontana) geschlossen, die ebenfalls sehenswerten Raccolte Frugone auch.
Der nächste Tag beginnt mit einer Besichtigung der Kirche Santa Maria di Castello. Die Kirche und das ehemalige Dominikanerkloster, seinerzeit finanziert von einem Zweig der Familie Grimaldi, können dank dem Einsatz der Freiwilligen der Associazione culturale Santa Maria di Castello besichtigt werden. Ein Fresko der Verkündigung des Malers Justus von Ravensburg wird bis zu den letzten Details in seiner symbolischen Bedeutung erklärt. Unsere Gruppe hört zwei Stunden lang aufmerksam zu und staunt.
Nach einem Mittagessen an der Sonne auf der Piazza delle Erbe ein Besuch in der Kathedrale San Lorenzo mit ihrer gestreiften Fassade aus hellem und dunklen Marmor. Rechts neben dem Eingang steht eine britische Bombe aus dem Jahr 1941. Die Genuesen hatten Glück, sie ist nicht explodiert. Vom Kirchenschiff aus geht es zum Kirchenschatz. Dort befinden sich il sacro catino, ein grünes Gefäss aus Caesarea, das als der heilige Gral galt, weiter ein wertvoller Teller, auf dem gemäss der Überlieferung der Kopf Johannes des Täufers präsentiert wurde, und Reliquienschreine für die Überreste Johannes des Täufers, die noch heute jedes Jahr in einer Prozession zum Hafen getragen werden, um Schutz für die genuesischen Schiffe zu erbitten.
Es gäbe noch weitere Kirchen zu besichtigen, aber im nahen Dogenpalast wartet auch die Ausstellung Anni Venti in Italia – l’età dell’incertezza mit Kunst aus den 1920-er Jahren. In der Ausstellung wird auch das Dilemma der Künstler in ihren Beziehungen zum frühen faschistischen Staat erklärt.
Der letzte Raum der Ausstellung ist die ehemalige Kapelle des Palasts, bis auf den letzten Zentimeter ausgemalt in den Jahren 1653-55. Die Fresken zeigen an der Decke Maria als Königin von Genua (die Republik hatte keine Könige, deswegen krönte man Maria). An den Seitenwänden ist der genuesische Held und Eroberer von Jerusalem dargestellt, Guglielmo Embriaco. Er wirkt wie ein sympathischer Lausbub. Das Blutbad, das die Eroberer in Jerusalem anrichteten, sieht man nicht.
Genua hat noch mehr Helden. Zu ihnen gehört auch der Kriegsunternehmer und spätere Doge Andrea Doria. Nicht immer aber waren die Genuesen siegreich. Im Jahr 1684 schossen französische Schiffe 13,300 Brandbomben in die Stadt, und 1849 zerschlug königlicher Artilleriebeschuss eine republikanische Revolte. Helden gab es wieder zum Ende des Zweiten Weltkriegs: Die antifaschistischen Widerstandskämpfer Liguriens warteten nicht auf die Amerikaner, sondern schlossen die deutschen Truppen ein und bekämpften sie, bis sie kapitulierten.
Am nächsten Morgen wollen die Teilnehmer zum Castello d’Albertis, in dem das Museo delle Culture del Mondo untergebracht ist. Ein einmaliges Erlebnis ist die Fahrt dorthin schon wegen dem eigenartigen Aufzug, der zuerst wie eine kleine Strassenbahn horizontal in den Hang fährt, um dann als Lift vertikal in die Höhe gehoben zu werden. Das Schloss selbst ist ein Bau des Historismus. Sehenswert ist von dort oben die Aussicht auf Hafen und Stadt. Die Sammlung des Weltreisenden ist beachtlich, nachdenklich stimmen aber die ausgestellten Gewehre, die vermutlich eine traurige Rolle gespielt haben im Kontakt mit den Einheimischen. Zurück neben dem Bahnhof Piazza Principe besichtigen wir die zweistöckige Kirche San Giovanni di Pré aus dem 12. Jahrhundert, neben der die Kommende, die Pilgerherberge der Tempelritter, erhalten geblieben ist.
Von der Comenda aus führt die Via di Pré zurück ins Zentrum. Trotz der Lage in der Nachbarschaft des Bahnhofs Piazza Principe scheint die Gasse von der Gentrifizierung, die anderswo spürbar ist, nicht oder noch nicht betroffen. Viele Häuser sehen vernachlässigt aus. Im Erdgeschoss befinden sich senegalesische und nordafrikanische Läden, Imbissstuben, Coiffeure und Reisebüros. Junge Immigranten stehen herum, und auf der bekannten Bewertungsplattform beschreiben verängstigte Touristen die Gasse als una via piena di extracomunitari buttati qua e là e che ti guardano pure male quando passi. Man solle den Ort nachts meiden, es könne gefährlich werden wegen Streitereien zwischen Drogenverkäufern. Nach der Via di Pré betritt man durch das Stadttor Porta dei Vacca die Via del Campo, die durch ein wunderschönes Lied von Fabrizio De André bekannt geworden ist.
In napoleonischer Zeit wurde die Beisetzung von Toten in den Kirchen verboten. Da bauten die Genuesen den Monumentalfriedhof Staglieno ausserhalb des Zentrums, im Tal des Flusses Bisagno. Dort liegt auch Giuseppe Mazzini in einem Mausoleum begraben. Die Schönheit des Friedhofs hat nicht nur Friedrich Nietzsche beeindruckt, sondern auch uns.
Am Ende unseres Aufenthaltes haben die meisten Teilnehmer die Ausstellung des Streetart-Künstlers Banksy besucht. Von den Medien war vorher angekündigt worden, die Ausstellung finde in Zusammenarbeit mit dem Künstler statt, das stimmte jedoch auch in diesem Fall nicht. Stoff zum Nachdenken bot die Ausstellung trotzdem.
Was die Esskultur betrifft, so gibt es allerlei Gerichte mit Meergetier, Pesto und Kichererbsen zu entdecken. Empfehlen können wir für ligurische Speisen die Antica Osteria di Vico Palla, die Locanda Spinola neben dem Palazzo Spinola (Galleria nazionale), das Café mit Enoteca auf der Piazza della Meridiana, welches am Mittag auch warme Speisen anbietet, und die verschiedenen Restaurants in Eataly. Ausgezeichnete Pizza gibt’s in La Piazetta del Pisacane. Das vegetarische Restaurant Rosetta auf der Piazza delle Erbe hat uns auch gepasst.