Die Fahrt nach La Chaux-de-Fonds führt durch das Grosse Moos, dann neben dem Schloss Neuenburg vorbei in die Höhe, der See reflektiert das grelle Licht der Morgensonne. Nach der Spitzkehre von Chambrelien steigt der Zug dem Val de Ruz entlang weiter, fährt durch Wälder und durch zwei Tunnels und erreicht schliesslich die Stadt, die auf tausend Metern Höhe liegt, wo im Winter die Autos unter Schneebergen vergraben sind, wo zwischen Trottoir und Strasse sich hohe Schneemauern türmen, wo bei Tauwetter massive Eisblöcke und meterlange Eiszapfen achtlose Passanten erschlagen und aufspiessen können. Auf dieser Stadt liegt am Tag unseres Ausflugs allerdings nur ein zaghaftes Schäumchen Neuschnee.
Wie konnte auf der kargen Hochebene eine Industriestadt entstehen? Es ging nur dank den technischen Errungenschaften am Ende des 19. Jahrhunderts, mit Pumpen, die die Stadt mit Trinkwasser versorgen, mit Verkehrswegen zum Transport von Nahrungsmitteln und Rohstoffen.
Es brauchte aber auch das technische Interesse, die Fertigkeit und die Erfindungskraft von Handwerkern, Tüftlern und Bauern, die ihre Zeit im Winter mit der Arbeit mit Metall verbrachten. Neben dem legendären Daniel Jeanrichard gehört sicher der Chaux-de-Fonnier Pierre Jacquet-Droz zu den Pionieren der Uhrmacherkunst.
Man stelle sich die technischen Mittel vor, die vor 250 Jahren bestanden. In dieser Zeit konstruiert der Erfinder einen komplizierten Mechanismus in einer menschenähnlichen Puppe, und diese schreibt einen programmierbaren Text von 40 Buchstaben. Eine andere Puppe kann mit ihren Fingern auf einem Miniaturklavier spielen, eine dritte kann schreiben, sie bewegt dabei die Augen und bläst den Graphitstaub vom Blatt.
Die Automaten, hergestellt zwischen 1767 und 1774, funktionieren bis heute. Im Musée d’art et d’histoire in Neuchâtel zeigen sie einmal pro Monat ihre Künste. Die ersten Roboter, die ersten Computer? Wer sich für die Anfänge der Uhrenindustrie interessiert, muss diese sensationellen Automaten gesehen haben.
Für den Erfolg der Uhrenindustrie waren gewiss auch die Netzwerke der Händler bedeutend, die die Uhren verkauften. Zu ihnen gehörten Juden. Sie kamen vor allem aus dem Elsass, kauften die Produkte und erhielten ab 1857 das Recht, sich in La Chaux-de-Fonds niederzulassen. Eine erste Synagoge wurde im Jahr 1863 gebaut, im Jahr 1880 wurde die heutige Synagoge an der Rue du Parc eröffnet. Juden spielten auch eine Rolle in der Mechanisierung der Uhrenindustrie. Statt wie bisher in Heimarbeit wurden Uhren im Lauf des 19. Jahrhunderts vermehrt in Fabriken hergestellt, wo mehr und mehr Arbeitsschritte an Maschinen übertragen wurden.
Auch die Entwicklung der Kunst ist in La Chaux-de-Fonds eng mit der Uhrenindustrie verbunden. An der 1870 gegründeten Kunstgewerbeschule konnte man Gravieren lernen und Crimpen, le sertissage, also die Technik zur Fixierung von Schmuck ohne zu löten oder zu kleben.
Bei unserem Ausflug ging es vor allem um die Person von Charles l’Eplattenier, der während 17 Jahren an der Kunstgewerbeschule unterrichtete. Er legte den Schülern das Beobachten der Natur nahe, entwickelte den für die Stadt charakteristischen style sapin, und entwarf das Monument de la République auf der wichtigsten Strassenkreuzung, das an den Sturz der royalistischen Regierung in Neuenburg durch Milizen aus dem Neuenburger Jura und dem Erguel 1848 erinnert.
Das monumentalste Werk von l’Eplattenier, die in Erinnerung an die Grenzbesetzung 1914-18 errichtete Statue Sentinelle des Rangiers, existiert nicht mehr. Sie wurde mehrmals umgerissen, schliesslich wurde ihr Kopf in einer öffentlichen Aktion zertrümmert. Warum ein solcher Hass auf eine Statue? Über den Kontext und die Umstände berichten wir bei unserem Ausflug in den Jura vom 20. Juni.
L’Eplattenier entdeckte die Begabung seines Schüler Charles-Edouard Jeanneret für Architektur. Der Schüler baute in La Chaux-de-Fonds verschiedene Wohngebäude, die Villa Fallet für einen Gewerbelehrer, die Maison Blanche für seine Eltern, und die sogenannte Villa Turque. Dann wanderte Jeanneret nach Paris aus und nahm den Namen Le Corbusier an.
Beim Rundgang vom 18. Januar entdeckten wir weiter das Wappen der Stadt, das wohl von freimaurerischer Symbolik geprägt ist, die Aussicht vom Turm Espacité, die erstaunliche Architektur des Ancien Manège.
Ich konnte es auch nicht lassen, etwas zum Abenteurer, Schriftsteller und Journalisten Blaise Cendrars zu sagen.
Der Mann wird in der Stadt wie Le Corbusier im Jahr 1887 geboren, mit dem Namen Frédéric-Louis Sauser. Der undisziplinierte Jugendliche kann sich nirgends einordnen, wird deswegen für ein Jahr zu einem Schweizer Uhrmacher nach Russland geschickt. An der Universität Bern studiert er dann Medizin und Philosophie, schliesst aber nicht ab. Er interessiert sich leidenschaftlich für Frauen und für Bücher. Dann wandert er mit seiner Geliebten nach Paris aus, reist ihr nach New York nach, kehrt nach Paris zurück, nimmt 1912 seinen literarischen Namen an, veröffentlicht Gedichte, lernt die künstlerische Avantgarde in Paris kennen, definiert sich als libertin, nimmt als Freiwilliger am Weltkrieg teil, desertiert nicht, verliert nach einem Jahr seinen Arm, wird von Modigliani porträtiert und schreibt den Roman Moravagine über einen Arzt, der mit einem Frauenmörder aus der Psychiatrie abhaut. Cendrars reist, liest, publiziert, arbeitet als Grand Reporter für französische Medien und 1939/40 als Kriegsberichterstatter für die Briten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verarbeitet er seine Lebensgeschichte in autobiographischen Romanen (L’homme foudroyé, La main coupée usw). Hatte der Mann eine Überzeugung? Vielleicht die: La beauté s’érige hors des normes.
Die maisons natales von Le Corbusier und Blaise Cendrars stehen noch, es sind keine spektakulären Bauten, aber Gebäude aus der Wachstumszeit der Stadt. Abgebrochen wurde das Haus, in dem ein dritter bekannter Chaux-de-Fonnier geboren wurde: Louis Chevrolet, Rennfahrer und Konstrukteur. Allerdings zogen seine Eltern früh weg, aufgewachsen ist Chevrolet im Burgund. Eine Gemeinsamkeit der drei kreativen Männer: keiner hatte je ein Diplom.
Am Nachmittag die Führung Art nouveau von Tourisme Neuchâtelois – Montagnes. Die engagierte Führerin führt uns zu den typischen Wohnhäusern mit ihren Kalkstein-Platten draussen, öffnet für uns die Eingangstüren, zeigt uns die Treppenhäuser mit Stufen aus Granit, der vom Tunnelbau in den Alpen stammt, die trompe l’oeil-Malereien, welche Marmor vortäuschen, die Dekorationen mit Darstellungen von Pflanzen und Tieren, und die kunstvoll geschnitzten Jugendstil-Türrahmen. Sie führt uns in den wunderschönen Salon bleu des Fabrikanten Spillmann mit seinen von der Natur inspirierten Glasfenstern, Wandmalereien, Möbeln, Lampen und Türgriffen.
Zum Abschluss besuchen wir das Krematorium von 1909, ein Gesamtkunstwerk von L’Eplattenier mit symbolistischen Malereien, aber ohne kirchliche Symbolik.
Keine Zeit bleibt an diesem Tag für das Kunstmuseum mit dem Raum, der eigens dem style sapin gewidmet ist, und für die Häuser von Le Corbusier.
Vielleicht ist dies nicht so schlimm. Wenn die Tagesausflüge von chtour.ch Anregung bieten für weitere Entdeckungen an den besuchten Orten, sind wir eigentlich zufrieden. Wir freuen uns auch, wenn die Ausflüge zum Lesen inspirieren und wenn eine Teilnehmerin sich gleich bei Payot ein Buch von Blaise Cendrars kauft.
Wir empfehlen in La Chaux-de-Fonds besonders den Besuch des Kunstmuseums, des Uhrenmuseums und der Maison Blanche (Öffnungszeiten auf www.maisonblanche.ch) sowie die Demonstration der Automaten in Neuchâtel (jeweils am ersten Sonntag des Monats um 14, 15 und 16 Uhr).
Noch ein Schlussbemerkung: Rund um die Stadt gibt es Wälder, aber die Bevölkerung ist nicht hinterwäldlerisch. Die Stadt wird seit über hundert Jahren links regiert, sie ist weltoffen, ihre Tradition ist fortschrittlich, es gibt eine Rue du Progrès, ein Café de l’Univers. Ein stolzer Bewohner erinnert uns während dem Rundgang daran, dass Lenin im März 1917 hier an einer jährlichen Veranstaltung zum Gedenken an die Paris Kommune teilgenommen hat, kurz vor seiner Abreise mit dem Zug durch Deutschland nach Sankt Petersburg.
In welcher Stadt gibt es eine Place de la Carmagnole zur Erinnerung daran, dass man dort den französischen Revolutionstanz getanzt hat? Wo sonst eine Place des Brigades internationales zur Erinnerung an die Kämpfer, die die spanische Republik gegen den Faschismus verteidigten?