Der Tagesausflug vom 1. Juni nach Moudon und Ropraz liegt schon einige Tage zurück. Was haben diejenigen verpasst, die nicht daran teilgenommen haben?
Um 09.34 sollte von Bern aus der Zug nach Kerzers fahren, von dort ein Anschlusszug über Avenches durchs Broyetal nach Moudon, lateinisch Minnodunum. Die Stadt liegt an der alten Römerstrasse von Rom nach Helvetien. Geplante Ankunft in Moudon: 11.05 Uhr.
Aber dann, im Bahnhof Bern, die Information, dass der Zug wegen einer Fahrleitungsstörung ausfällt. Eine Umleitungsempfehlung über Lyss überzeugte uns nicht. Via Fribourg und Romont kamen wir rechtzeitig in Moudon an. Dort trafen wir schliesslich alle 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Fast alle waren pünktlich. Ein Wunder.
Im Chor der Kirche Saint-Etienne setzten wir uns auf die über 500 Jahre alten, geschnitzten Chorstühle. Es gibt da keine Abschrankung, aber Vorsicht beim Herunterklappen der Sitze! Der Ort bietet sich an, um etwas zu erzählen über die Geschichte der Verkehrswege, der Stadt, des Waadtlandes und über Peter II von Savoyen, der im 13. Jahrhundert die savoyische Herrschaft in der Waadt und bis Bern weiterentwickelte.
Von den Chorstühlen aus sieht man die savoyischen Herrschaftszeichen an der Decke, die zur Zeit der Reformation und der bernischen Herrschaft übertüncht waren: das Motto der Dynastie, eine Abkürzung in vier Buchstaben, sowie den Knoten in der Form einer 8, wie am Gebäude in der Altstadt, das als Maison des Etats des Vaud bezeichnet wird.
Moudon, laut Chessex wegen häufigem Regen und Nebel als “Nachttopf des Kantons” bekannt, ist ein kleines Städtchen. Und doch reichte die Zeit auch bei unserem Ausflug nicht für alles.
Im Museum von Alt-Moudon, in einer Sonderausstellung zum Thema Justiz, wäre eine Niederschrift von 1577 des althergebrachten und von Bern anerkannten Rechts zu sehen, le coutumier de Moudon, zusammengestellt dank der grossmütigen Unterstützung der Gnädigen Herren von Bern.
Verpasst haben wir mit der Gruppe auch das sehenswerte Museum Eugène Burnand. Der naturalistische Maler wurde als Offizier der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet.
Den Besuch beider Museen empfehlen wir im Nachhinein wärmstens.
Am Nachmittag des 1. Juni die Busfahrt nach Carrouge im Haut-Jorat. Das Dorf ist die Heimat des Poeten Gustave Roud, der Jacques Chessex beeinflusst hat. Über ihn gibt es ein Filmporträt des Westschweizer Fernsehens RTS von 1965, ein frühes Werk des Filmemachers Michel Soutter, der zu den Pionieren des nouveau cinéma suisse gehört. Man muss sich Zeit lassen für den Film in schwarz-weiss, er dauert 31 Minuten. Man könnte es «slow TV» nennen, in Analogie zu slow food und slow travel : Gustave Roud, filmé par le réalisateur Michel Soutter
Nach einem Spaziergang, der in der sommerlichen Hitze etwas Anstrengung abverlangt, Ankunft im Dorf Ropraz, in dem der streitbare Jacques Chessex gelebt hat.
Die Rettung. Alain Gilliéron von der Fondation L’Estrée versorgt und verwöhnt unsere Gruppe sehr grosszügig mit Wasser, Weisswein, Kuchen und Erinnerungen an den befreundeten Schriftsteller. In der Kapelle neben dem Café de la Poste liest er uns das Gedicht La Mère.
Am 16. April 1942 wurde der jüdische Viehhändler Arthur Bloch in Payerne ermordet, von einer Gruppe lokaler Nationalsozialisten. Chessex, in Payerne geboren, war damals acht Jahre alt. Die Tochter des Mannes, der sich schon als Gauleiter sah, besuchte seine Klasse. Un juif pour l’exemple beschreibt den Mord genau. Als das Buch anfangs 2009 erschien, wurde Chessex angefeindet. Im Oktober desselben Jahres starb er während einer Veranstaltung in der Bibliothek von Yverdon. Zum Gedenken an seinen Tod sind 2019 verschiedene Gedenkveranstaltungen geplant.
Jacques Chessex hat mehrmals über den Friedhof geschrieben, neben dem er früher lebte und in dem er heute liegt. Tod und Sexualität: Chessex hat heikle Themen behandelt. Kompromisslos.
Manchmal war er nicht nur ehrlich, sondern auch provokativ. In seinem Text On est de Berne, der im Portrait des Vaudois von 1969 zu finden ist, beschreibt er die bernischen Eroberer der Waadt, la bande à Naegeli.
Mit der Armee der Eroberer von 1536, deren Gutturallaute die Waadtländer nicht verstehen können, fährt ein begeisterter Passagier mit. D’un fourgon aux essieux grinçants sort la tête exultante de Charles Gilliard, und später: On est de Berne! crie Charles Gilliard qui sautille en battant les mains. Und so geht es weiter.
Gilliard war auch mal Gymnasiallehrer in Lausanne, wie Chessex, aber Lehrer für Latein. Nach eingehendem Studium der mittelalterlichen Originaldokumente publizierte er 1929 ein 732 Seiten starkes Werk über die Verwaltung von Moudon durch die Savoyer, akribisch recherchiert, voller Quellenangaben, 1935 dann ein Buch über die Eroberung der Waadt durch die Berner. Ohne die Berner hätte die Reformation in Genf kaum überlebt, glaubt Gilliard, und er meint, dass die bernische Zeit entscheidend gewesen sei für die Herausbildung einer eigenen Identität der Waadtländer.
Die Ansicht ist plausibel. Um eine weitere konfessionelle Spaltung der Eidgenossenschaft zu verhindern, überliessen die Berner nämlich weite Gebiete der früher savoyischen Waadt den katholischen Freiburgern und Wallisern. Die Menschen, die dort lebten, waren bald nicht mehr Waadtländer, sondern wurden Freiburger und Walliser.
Klar ist mir, dass Chessex mit Gilliard nicht einverstanden war. Aber warum?
Charles Gilliard starb 1944. Er konnte sich nicht wehren gegen den Platz auf einem Wagen mit quietschenden Achsen inmitten der bernischen Streitmacht , den Chessex ihm 1969 zuwies. Und da auch Chessex vor zehn Jahren gestorben ist, können wir ihm dazu keine kritischen Fragen mehr stellen.