Nach einer Woche mit intensiven Regenfällen verspricht der 8. Mai, ein sonniger und warmer Tag zu werden. Der heilige Petrus, angeblich für das Wetter verantwortlich, meint es wohl gut mit uns. Schliesslich fahren wir nach Genf. Und auf dem Wappen der Stadt ist nicht nur der Reichsadler zu sehen, sondern auch der Schlüssel des Apostels.
Das frische Grün der Bäume, das leuchtende Gelb der Rapsfelder und die Linienführung der Bahn aus den beginnenden 1860-er Jahren sorgen für eine beschauliche Fahrt in die Stadt im äussersten Südwesten der Schweiz, am Ausfluss der Rhone aus dem Genfersee.
Wir treffen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Bahnhofhalle. Dort empfiehlt sich ein Blick auf die Wandmalereien aus der Erbauungszeit, auf denen die Bahnnetze Europas und der Schweiz dargestellt sind. Auf der Karte Europas markiert eine Friedenstaube das Gebiet der Schweiz. Ein Hort des Friedens, dieses Land mit seiner Tradition des Söldnertums, mit seinen Zivilschutzbunkern, mit einer Militärjustiz, die noch vor wenigen Jahrzehnten die Militärdienstverweigerer zu unbedingten Gefängnisstrafen verurteilte?
Wie so oft hilft der historische Kontext zum Verständnis.
Der erste ernsthafte Versuch, den Krieg in völkerrechtlich verbindlicher Form abzuschaffen, ist der 1919 gegründete Völkerbund, la Société des Nations, the League of Nations. Vorgeschlagen hat die Gründung der Institution noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs der amerikanische Präsident Woodrow Wilson.
Der Beitritt der Vereinigten Staaten zum Völkerbund scheiterte dann allerdings am Widerstand des Kongresses. Der Friede scheiterte auch. Die Siegermächte gaben den Besiegten im Versailler Vertrag einseitig die Schuld am Weltkrieg und leisteten mit den Bedingungen, die sie den Besiegten auferlegten, ihren Beitrag zum Aufkommen des Nationalsozialismus und zum Weltkrieg Nummer zwei.
Sitz des Völkerbundes wurde Genf. Für den Völkerbund baute man das Palais des Nations, in dem sich heute der europäische Sitz der UNO befindet, und einen neuen Bahnhof, der 1929 eingeweiht und vor wenigen Jahren renoviert wurde.
Vom Bahnhof gehen wir wie die meisten Ankommenden auf der Rue du Mont-Blanc nach unten. Anders als die meisten Vorübergehenden beachten wir auf der linken Seite das Haus, in dem Fjodor Michailowitsch Dostojewski, begleitet von seiner jungen Frau, der Stenographin Anna Grigorjewna geborene Snitkina, auf der Flucht vor seinen Gläubigern ein Eckzimmer mietete und den Beginn des Romans Der Idiot schrieb.
Auf der im Übergangsbereich zwischen See und Fluss gelegenen Île Rousseau sprechen wir über den wohl bekanntesten Sohn der Stadt. Er liegt im Pariser Pantheon in einem Sarg mit der Aufschrift Ici repose l’homme de la nature et de la vérité. Auf der kleinen Insel ist er in schreibender Pose gegenwärtig, als imposantes Denkmal.
Das Denkmal von James Pradier aus dem Jahr 1835 betont in seiner Grösse die Autorität des Schriftstellers. Die Probleme, die Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) sich mit seinen Schriften eingebrockt hat, sieht man nicht.
Im typischen Lebenslauf eines Schriftstellers verflüchtigen sich die Schwierigkeiten, sobald er (oder sie, im Falle einer Autorin) genügend Bücher verkauft und bekannt wird. Anders bei Rousseau. Der 1761 veröffentlichte Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse – inspiriert vom herzzerreissenden Briefwechsel von Abélard und Héloise aus dem 12. Jahrhundert – wird zwar zu einem der meistgelesenen Bücher des 18. Jahrhunderts. Der Erziehungsroman Émile (1762) hingegen und vor allem die politische Theorie Du contrat social ou Principes du droit politique (ebenfalls 1762) führen aber zu Verboten in Genf, in Bern (und damit im bernischen Waadtland), in Frankreich und sogar in den freiheitlichen Niederlanden, wo Rousseau einige seiner Bücher drucken lässt.
Rousseau vertritt in seinem Gesellschaftsvertrag die Meinung, dass die politische Souveränität beim Volk liegt und nicht bei den Fürsten, die sich auf das Gottesgnadentum berufen. Unakzeptabel ist für den Kleinen Rat der Genfer Republik Rousseaus undogmatische Behandlung religiöser Themen. Er wirft dem Autor Gotteslästerung vor und damit eine Verletzung des Genfer Bürgereids. Rousseau verzichtet deswegen 1763 öffentlich auf die Genfer Staatsbürgerschaft und lebt bis zu seinem Tod im Exil, fünfzehn Jahren lang, begleitet von der Angst, verhaftet und nach Genf ausgeliefert zu werden, ohne gesicherte Existenz, abhängig vom Wohlwollen von Gastgebern, geringgeschätzt von Voltaire und dessen Gefolgschaft, geplagt von Verfolgungsfantasien und Nierensteinen.
Kann der Mann, der vor 243 Jahren gestorben ist, heute noch etwas bedeuten? In Italien hat die Bürgerbewegung Movimento Cinque Stelle, die die bisherigen politischen Parteien ersetzen will, eine Internetplattform mit dem Namen Rousseau geschaffen, in der Bürger sich in den Gesetzgebungsprozess mit eigenen Redaktionsvorschlägen einbringen können. Sie beruft sich dabei auf Rousseau: Il popolo sottomesso alle leggi deve esserne l’autore – le peuple soumis aux lois doit en être l’auteur, sinngemäss übersetzt: das Volk, das nach Gesetzen lebt, soll diese auch selbst schaffen.
Das Geburtshaus von Rousseau Maison de Rousseau et de la littérature in der Nummer 40 der schmalen Grand-Rue, der Hauptachse der Altstadt auf dem Hügel, präsentiert seit Ende April im ersten Stockwerk eine neue Ausstellung, einen Parcours mit Informationen über den Autor. Mit Französischkenntnissen sehr lohnend. Der Eintritt ist bis Ende Juni gratis.
Einige Schritte weiter liegt das Altstadthaus Maison Tavel, heute Museum. Um sich die Stadt vorzustellen, in der Jean Calvin und Rousseau gelebt haben und in der Henry Dunant geboren wurde, hilft ein grosses Modell im Dachgeschoss, das die Altstadt vor dem Abriss der Stadtmauern darstellt.
Wenige Schritte weiter liegt das Rathaus im Stil der Renaissance.
Im Innenhof machen wir den Versuch einer Darstellung der Prädestinationslehre, die vom französischen Theologen Jean Calvin (1509-1564) gelehrt wird und im 16. Jahrhundert in Genf gilt, sich in anderen protestantischen Gebieten aber nicht durchsetzen kann. Calvin geht davon aus, dass Gott unbestechlich ist und das Verhalten der Menschen keinen Einfluss auf ihre Rettung oder Verdammnis hat. Heisst dies nun, dass wir Menschen ungehemmt sündigen können? Mitnichten. Aufgabe der Behörden ist es, über das gottgefällige Leben der Bürgerschaft zu wachen. In der Genfer Theokratie übernimmt diese Rolle das Konsistorium / le Consistoire, ein gemischtes Gremium aus Stadtbehörden und Pastoren.
Im calvinistischen Genf gelten strenge Regeln. Verboten ist das Fluchen, die Gotteslästerung, die Beleidigung der Obrigkeit und der Pastoren, das Singen unzüchtiger Lieder, sexuelle Aktivitäten ausserhalb der Ehe, Trunkenheit, Vagabundieren und Betteln, unnütze Zeitvergeudung, die Verführung anderer zum Nichtstun, Glücksspiel, Kartenspiel, Tanz, die Verehrung von Heiligenbildern und -figuren (Götzen) sowie übertriebene Zinsen. Nachzulesen beim Historiker Volker Reinhardt in seinem Buch Die Tyrannei der Tugend (2009).
Lesenswert sind auch die Texte Calvins, vor allem der kritische Text über die Reliquienverehrung und die Pilgerfahrten, die eine verbreitete Form des frühen Tourismus sind. Zu Calvins Zeiten gibt es über hundert Publikationen zu den Kirchen in Rom und anderswo samt Angaben zu ihren wundertätigen Reliquien.
In der Genfer Kathedrale Saint-Pierre, der lokalen Peterskirche, verehrt man vor der Reformation in einem kostbaren Kästchen das Hirn des Heiligen Petrus. Bei der Reformation schaut man nach, was drin ist. Es ist ein poröser Lavastein. Dies behauptet zumindest der Reformator in seinem Traité des reliques, mit dem vollen Titel Avertissement très utile du grand profit qui reviendrait à la chrétienté s’il se faisait inventaire de tous les corps saints et reliques qui sont tant en Italie qu’en France, Allemagne, Espagne et autres royaumes et pays (in Jean Calvin : Œuvres choisies).
Calvin will nach seinem Tod bescheiden an einem nicht gekennzeichneten Ort begraben werden. Er will verhindern, dass Leute an sein Grab pilgern. Jahrhunderte später wollen Besucherinnen und Besucher aber sein Grab sehen. Deswegen gibt es heute in Genf ein Grab Calvins. Aber es ist leer.
Erhalten sind seine Schriften und sein Stuhl, der steht in der Kathedrale. Einen sehr guten Einblick in die Reformation in Genf bietet das Musée international de la Réforme gleich neben der Kathedrale.
Nach einer Mittagspause widmen wir uns dem dritten Genfer, Henry Dunant (1828-1910), geboren an der Rue Verdaine 12, getauft als Jean-Henri. Der Schüler hat schlechte Noten, macht deswegen eine Lehre bei Geldwechslern und gründet 1856 die Société financière et industrielle des Moulins des Mons-Djémila in Algerien, das vor wenigen Jahrzehnten im Rahmen der französischen Kolonialkriege erobert worden war, wo der Widerstand gegen die Fremdherrschaft aber nicht aufgehört hat. Dunants Projekt kommt aber wegen der fehlenden Mitwirkung der lokalen Kolonialbehörden nicht vom Fleck. Dunant versucht deswegen, Kaiser Napoléon III persönlich zu sprechen. Darum befindet er sich im Juni 1859 in Oberitalien.
Um den Kaiser günstig zu stimmen, druckt der Banker J. Henry Dunant einen Monat vorher eine Huldigungsschrift mit dem Titel L’Empire de Charlemagne rétabli ou Le Saint-Empire Romain reconstitué par Sa Majesté l’Empereur Napoléon III , in der er auf 46 Seiten darlegt, dass Napoléon III der legitime Nachfolger der römischen Cäsaren sowie der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs sei sowie der Führer Europas und seiner Zeit. Man findet den Text digitalisiert im Internet. Die Anbiederung an reiche und mächtige Ausländer gehört wohl traditionell zum Erfolgsmodell Genfs als Stadt ohne Umland, die angewiesen ist auf Handel und Kontakte.
Dunant ist kein kritischer Denker, als er zufällig zum Schlachtfeld von Solferino kommt, auf dem etwa 4500 Tote und 22,000 Verletzte liegen. Seine 1862 veröffentlichte Schrift Un souvenir de Solférino, die er an wichtige Persönlichkeiten verschickt und gratis verteilt, erschüttert aber die Öffentlichkeit. Dunant schlägt vor, Hilfsgesellschaften zu gründen, die sich um Kriegsverletzte kümmern. 1863 wird das Rote Kreuz gegründet. Neben Dunant bilden zwei Ärzte, der General Henri Dufour und der Jurist Gustave Moynier das erste Komitee. Ein Jahr später wird im Genfer Rathaus die Erste Genfer Konvention unterschrieben. Es ist der Beginn des Humanitären Völkerrechts, das sich weiterentwickelt bis heute. Anders als später beim Völkerbund oder bei der UNO geht es dabei nicht um die Verhinderung des Krieges, sondern um Regeln der Kriegführung, um das Verhalten in bewaffneten Konflikten. Verstösse gegen das Humanitäre Völkerrecht, also Kriegsverbrechen, gelten als besonders schwer und können auch international verfolgt werden.
Allerdings gibt es auch Rückschritte. Die USA anerkennen die internationale Gerichtsbarkeit bis heute nicht und üben Druck aus auf abhängige Staaten, damit sie die Auslieferung amerikanischer Kriegsverbrecher ausschliessen. Problematisch sind auch die extrajudicial killings mit Drohnen in Gebieten, die eigentlich nicht Kriegsgebiete sind.
Die fehlende Aufarbeitung des Irakkriegs (ab 2003) ist in doppelter Hinsicht ein betrübliches Kapitel. Da er vom UNO-Sicherheitsrat nicht gebilligt worden war, war er völkerrechtswidrig und illegal. An den Nürnberger Prozessen 1945-49 prägte man für solche Angriffskriege den Begriff Verbrechen gegen den Frieden. Diejenigen, die für die Hunderttausenden von Toten des Irakkriegs direkt oder indirekt verantwortlich sind, müssen leider kaum mit einer Strafe rechnen.
Betrüblich ist auch der Umgang mit Verletzungen des Humanitären Völkerrechts im Verlauf dieses Krieges. Im Gefängnis sitzen nicht die Schützen, die im Irak Zivilisten erschossen haben samt den Helfern, die den Verletzen zu Hilfe eilten. In einem Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt sitzt der Gründer von WikiLeaks, der Plattform, die entsprechende Videos und andere Hinweise auf Kriegsverbrechen veröffentlicht hat. Wie der alte Rousseau befürchtet er eine Auslieferung. In diesem Zusammenhang empfohlen ist das Buch des UNO-Sonderberichterstatters für Folter Nils Melzer: Der Fall Julian Assange (2021).
Zurück zu Dunant. Als Banker und Geschäftsmann ist er für die Genfer eine Enttäuschung. Er muss Konkurs anmelden, verlässt Genf, wird aus dem Rotkreuz-Komitee ausgeschlossen und wegen betrügerischem Konkurs verurteilt. Napoleon III ist bereit, die Hälfte seiner Schulden zu übernehmen, wenn seine Genfer Freunde dasselbe tun. Aber die Schande des Konkurses wiegt schwer. Dunant hat in Genf keine Freunde mehr. Er bleibt ein engagierter Mensch, lebt in Paris, Stuttgart, Rom, Korfu, Basel und Karlsruhe, vegetiert in Armut und Vergessenheit, lebt von der Unterstützung einiger Sympathisanten. 1895 wird der Gründer des Rotes Kreuzes in einem Appenzeller Dorf von einem Journalisten wiederentdeckt, 1901 erhält er den ersten Friedensnobelpreis. Dunant hat die letzten 43 Jahre seines Lebens verbracht, ohne je nach Genf zurückzukehren.
Zusammen begeben wir uns an diesem 8. Mai an die Ecke zwischen der Rampe de la Treille und Rue de la Tertasse, die noch halbwegs zur Place Neuve gehört. Hier steht seit 1980 die Büste von Henri Dunant just an dem Ort, in der bis 1862 mit der Guillotine die Todesstrafe vollzogen wurde.
Unten an der Rampe de la Treille stand früher die Porte Neuve der Stadtbefestigung. Am 12. Dezember 1602, als eine savoyische Streitmacht im Schutz der Dunkelheit mit Leitern die Stadtmauern erkletterte, um dem calvinistischen Experiment ein blutiges Ende zu bereiten, durchschnitt ein mutiger Verteidiger Genfs das Seil, das den Gitterrost der Porte Neuve offenhielt, so dass der kleine Teil der Angreifer, der schon in der Stadt war, abgeschnitten wurde vom grossen Teil der savoyischen Streitmacht, die sich noch ausserhalb der Mauern befand. Bis heute feiert Genf jedes Jahr an der Fête de l’Escalade den Sieg über die Angreifer, und das damals entstandene Lied Cé qu’è lainô in franko-provenzalischer (arpitanischer) Sprache ist bis heute die Hymne der Republik. Die Genfer singen, dass Gott ihr patron ist. Vielleicht hat er sich also doch von ihrem gottgefälligen Leben beeinflussen lassen?
An diesem 8. Mai, Journée mondiale de la Croix-Rouge et du Croissant-Rouge, sind nicht nur der Pont du Mont-Blanc und die öffentlichen Verkehrsmittel mit Rotkreuz-Symbolik dekoriert, sondern auch die Reiterstatue des Mitbegründers des Roten Kreuzes, General Henri Dufour, auf der Place Neuve. Das korrekte Verhalten seiner Truppen im Sonderbundskrieg von 1847 ist mit ein Grund dafür, dass es in der Schweiz keine weiteren Bürgerkriege mehr gibt.
Ein grösseres Denkmal als für den General baut die Stadt, die gerne reiche Ausländer umwirbt, für den Herzog Karl II von Braunschweig (1804-1873). Der Mann, an der Macht von 1823 bis 1830, verspielt das Vertrauen der Bevölkerung schnell und wird von seinem eigenen Volk entmachtet und vertrieben. Vor seinem Tod vermacht er sein grosses Vermögen der Stadt Genf, die ihm dafür in prominentester Lage am Quai du Mont-Blanc das Monument Brunswick errichtet, einen Denkmalmalkomplex nach dem Modell der Grabmäler für die mittelalterliche Herrscherfamilie Della Scala in Verona. Diesen Ort besuchten wir auf unserem Rundgang nicht. Dafür das 1909 bis 1917 erbaute Reformationsdenkmal am Rand des Parc des Bastions, in dem die Genfer Bevölkerung bei diesem Wetter die Freizeit geniesst.
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Über den streng blickenden Reformatoren steht in grossen Lettern das Motto der Stadt Genf eingemeisselt: POST TENEBRAS LUX, nach der Dunkelheit das Licht.
Darauf wollen wir weiterhin hoffen.