“Einst dürstete ich nach deinem Glauben
Mein Land
Nun dürste ich nach deiner Gerechtigkeit
Wahrlich
Die Ärsche deiner Staatsanwälte und Richter
Lasten so schwer auf ihr
Dass ich das Wort Freiheit kaum ertragen kann
Das du ständig im Maule führst”
So beginnt Friedrich Dürrenmatts Schweizerpsalm III.
Dürrenmatt wurde nicht als Lyriker bekannt, aber diese dritte und letzte Neuinterpretation des Schweizerpsalms, der seit 1961 die offizielle Nationalhymne ist, bringt uns zurück in die Zeit vor fünfzig Jahren.
“Von den Steuerhinterziehern aller Länder unterhalten
Schenkst du General Westmoreland Whisky ein
Mit ihm nächtlich auf die Rettung des Abendlandes
anstossend”
Dürrenmatt bezieht sich hier auf den Besuch des Chief of Staff der US Army, General Westmoreland, in der Schweiz Mitte September 1969.
Der hohe Besuch dieses ehemaligen Oberbefehlshabers der US-Truppen in Vietnam bei der Schweizer Armee führte im ruhigen Land zu unerwarteten Protesten und fand deswegen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Fünfzig Jahre später haben es die Medien versäumt, an das Jubiläum dieses Besuchs zu erinnern. Über die 1968-er Generation wurde berichtet, auch das Festival in Woodstock vom August 1969 wurde wieder thematisiert, aber zu Westmoreland gab es nur Schweigen.
An einem der Proteste nahm Arthur Villard teil, Grossrat aus Biel. Er hatte sich schon früher gegen die atomare Aufrüstung der Schweiz und für ein Waffenausfuhrverbot engagiert, war Sekretär der Schweizer Sektion der War Resisters international und meinte in einer Rede sinngemäss, dass sich auch die Schweizer überlegen müssten, ihre Dienstbüchlein zu verbrennen, wenn die jungen Männer in der USA ihre Einberufungsbefehle verbrannten und wenn die neutrale Schweiz unfähig war, sich von Amerikas Krieg in Vietnam zu distanzieren.
Ein Offizier verklagte Villard wegen Aufforderung zur Dienstverweigerung. Villard wurde in erster Instanz freigesprochen, weil zwei Polizisten, die seine Rede mitverfolgt hatten, sich nicht an den genauen Wortlaut der Aufforderung erinnern konnten. Gegen den Freispruch wurde appelliert.
Vor dem bernischen Obergericht und später vor Bundesgericht bestätigte Villard sinngemäss den Inhalt seiner Rede, statt sich auf die unklare Erinnerung der Zeugen zu berufen. Die Folge der Meinungsäusserung war eine einmonatige Gefängnisstrafe, die Villard auch antrat.
In seinem Schweizerpsalm III stellt Dürrenmatt sich nicht als Armeegegner dar (Nichts gegen deine Armee…), trotzdem kommt er zum Schluss:
“Die Stütze meines Landes sind die, welche denken
Nicht jene, die mitmarschieren”
Dann fährt er fort:
“Armer Villard
Das Töten verurteilend
Wirst du von einem Lande verurteilt
Das aus dem Töten Profit zieht
Deine Lauterkeit sei unser Vorbild
Deine Tapferkeit werde die unsrige
Die Tapferkeit, in einem Lande zu leben
In welchem es langsam genierlich wird
Einem Bundesrat die Hand zu reichen”
Von Dürrenmatt wohl nicht ironisch gemeint, sondern ernst.
Zurück zum Kontext vor fünfzig Jahren.
Friedrich Dürrenmatt, der nie ein Studium beendet hat, ist eingeladen, im November 1969 als Ehrendoktor der Temple University in Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania gewürdigt zu werden.
Nun will auch der Kanton Bern den inzwischen weltbekannten und anderswo preisgekrönten Schriftsteller ehren. Der Kanton, in dem Fritz aufgewachsen ist und als Studienabbrecher und eher erfolgloser Autor bis 1952 gelebt hat, verleiht ihm den Grossen Literaturpreis. Der Anlass findet am 25. Oktober 1969 in Bern statt. Dürrenmatt akzeptiert den Preis und gibt ihn gleich weiter an drei Personen: Sergius Golowin, Paul Ignaz Vogel und Arthur Villard.
Villard war wohl 1969 der meistgehasste Mann des Kantons.
Die Nennung seines Namens «liess jeden im Saal erschauern», so schrieb das Thuner Tagblatt in einem Bericht zur Preisverleihung. «Nicht, dass Dürrenmatt mit diesem Arthur Villard etwas gemeinsam hätte, auch nicht, dass er ihm besonders nahestehen würde, aber niemand wäre besser geeignet gewesen, als es darum ging, die Festgemeinde und die Bürger des Kantons zu provozieren».
Dürrenmatt und der «Kryptokommunist» Villard (die Bezeichnung stammt aus demselben Bericht) sind tatsächlich verschieden.
Heute kennen wir den Begriff «Kryptowährung». Aber «Kryptokommunist»?
Der Mann, der versteckt, dass er eigentlich Kommunist ist. Der Wolf im Schafspelz. Aber dieser Villard hat in der Zeit des Weltkriegs über tausend Tage Aktivdienst geleistet.
Anders Dürrenmatt. Er hat schlechte Augen, ist deshalb nur hilfsdienstpflichtig. Auch auf frühen Fotografien wirkt er etwas übergewichtig, später wird er zuckerkrank. Er ist das Gegenteil eines richtigen, eines soldatischen Mannes.
Aber statt sich zu schämen, stellt er das Unheldische als Lösung dar. Romulus, der letzte Kaiser von Westrom, weigert sich im Stück von 1949, das Imperium zu verteidigen und bietet dem Germanen Odoaker an: «Herrsche nun du. Es werden einige Jahre sein, die die Weltschichte vergessen wird, weil sie unheldische Jahre sein werden – aber sie werden zu den glücklichsten Jahren dieser Erde zählen».
Es wurde kritisiert, Dürrenmatts Stück sei unhistorisch. Das stimmt zwar, aber es hatte keinen historischen Anspruch, und das weströmische Reich endete wirklich auf eine unüblich zivilisierte Weise. Odoaker schickte die Reichinsignien nach Ostrom. Der noch junge Romulus lebte fortan als Privatmann auf seinem Landsitz und erhielt eine jährliche Pension.
Auf unserem Tagesausflug vom 2. November zum Thema «Friedrich Dürrenmatt, die Idylle und der drohende Atomkrieg» besuchten wir als erstes den Friedhof in Biel-Madretsch, auf dem der von Dürrenmatt geehrte Dissident Villard zusammen mit seiner zweiten Frau Paulette begraben ist, unter einem Grabstein mit dem Zitat von Victor Hugo CEUX QUI VIVENT SONT CEUX QUI LUTTENT, dem Motto des Kämpfers.
Der Tag war von uns zufällig gewählt, aber er passte für den Besuch. Seit dem 10. Jahrhundert erinnert man sich an Allerseelen an die Verstorbenen. Ein Sohn von Arthur Villard zündete eine Kerze an auf dem Grab.
«Der Schriftsteller muss die Literatur vergessen», sagte Dürrenmatt, es solle ihn «nicht die Literatur, sondern die Welt beschäftigen, in der er nun einmal lebt».
Um dem Schriftsteller näherzukommen, waren wir bemüht, uns an die Welt und die Gesellschaft zu erinnern zwischen dem Weltkrieg und den 1960-er Jahren. In der kollektiven Erinnerung bleiben die Gründung von NATO, Warschauer Pakt, BRD und der DDR 1949, der Koreakrieg 1950-53 und der Aufstand in Ungarn 1956. Eher verdrängt werden die Ablehnung des Frauenstimmrechts in der Volksabstimmung von 1959 und die Tests der Weltmächte mit immer stärkeren Atombomben, die zu einer radioaktiven Verseuchung der Atmosphäre führten.
Die Problematik des Atombombenzeitalters wurde von Robert Jungk in seinem Buch «Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher» von 1956 dargestellt. Dürrenmatt hat darüber eine Rezension geschrieben.
Die Erinnerung an den Bau der Berliner Mauer 1961 bleibt wach, sie wurde auch öfters durch die Medien aufgefrischt. Ältere Menschen erinnern sich weiter an die Expo 1964, an den Mirage-Skandal 1965, an die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und an die Mondlandung 1969.
Im Jahr 1969 wurde auch das Büchlein «Zivilverteidigung» in alle Haushalte verteilt. Besonders umstritten waren die fünfzig Seiten mit dem Titel «Die zweite Form des Krieges». Einführend erklärten die Autoren: «Die zweite Form des Krieges ist darum so gefährlich, weil sie äusserlich nicht als Krieg erkannt wird. Der Krieg ist getarnt. Er spielt sich in den äusseren Formen des Friedenszustandes ab und kleidet sich in die Gestalt einer inneren Umwälzung…»
Von Biel führte unser Ausflug nach Schernelz und auf die Festi, wo der von finanziellen Nöten geplagte junge Schriftsteller bis 1952 mit seiner Familie lebte.
In der Idylle oberhalb von Ligerz schrieb Dürrenmatt erste Theaterstücke, mehrere Hörspiele, meist für deutsche Radiosender, aber auch den Kriminalroman «Der Richter und sein Henker», der mit einem Mord am Abend des 2. November ganz in der Nähe beginnt, und den nächsten Kriminalroman «Der Verdacht».
Auf der Festi lebt die Tochter der Künstlerin, die der Familie Dürrenmatt Unterschlupf gewährte. Sie stellt dort auf kleinstem Raum Textilkunst ihrer Mutter Elsi Giauque und Postkarten und Fotografien des 2018 verstorbenen Fotographen Leonardo Bezzola aus.
Wir danken ihr an dieser Stelle für ihre Gastfreundschaft und den ausgezeichneten Festiwein!
Auf der Roche de l’Ermitage über dem ehemaligen Wohnhaus von Dürrenmatt in Neuchätel spürten wir den starken Südwestwind und genossen die Aussicht über den See, in dem sich die Sonne spiegelte, während sich über den Jurabergen dunkle Wolken türmten.
An diesem Ort sprachen wir über das Stück «Die Physiker», das Ende Februar 1962 in Zürich uraufgeführt wurde. Obwohl Kontakte zwischen Ost und West im Kalten Krieg nur sehr eingeschränkt möglich waren, wurde Dürrenmatt, der seit dem Stück «Der Besuch der alten Dame» weltweit erfolgreich war, auch im Osten übersetzt und gespielt. Das Stück «Die Physiker» schaffte es schon 1962 auf den Spielplan der Leningrader Komödie. 1963 wurde es sogar im Theater der Roten Armee in Moskau gespielt. Erst 1964 kam es in New York auf die Bühne.
Dafür lehnten die Schweizer am 1. April 1962 den Verzicht auf Atomwaffen in einer Volksabstimmung ab. Kein Aprilscherz. Abstimmen durften nur die Männer.
Als die Weltmächte Ende der 1960-er Jahre übereinkamen, die Weiterverbreitung der Atomwaffen zu verbieten, und als der Schweizer Versuchsreaktor in Lucens 1969 explodierte, setzte sich langsam die Einsicht durch, dass es zu spät war für die Entwicklung einer schweizerischen Atombombe.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Ausflugs hatten schliesslich die Gelegenheit, das Centre Dürrenmatt zu besuchen und bei der Vernissage der Ausstellung «Le Grand Festin / Das grosse Festmahl» anwesend zu sein, die bis 22. März 2020 zu sehen ist. In ihr geht es um das Thema Essen und Trinken.
«Mein Sarg soll voller Kartoffelsalat und Cervelatwurst sein», wünschte sich Dürrenmatt. Es kam dann zwar anders, aber ärgern sollten wir uns darüber nicht. Besser halten wir uns an Dürrenmatt: «Wenn ich zwischen zwei Todesarten wählen könnte, würde ich mich lieber totlachen als totärgern».