Wenn wir uns zum Ziel gesetzt hätten, aktuellen Trends zu folgen, wären wir nach London gereist, wo im Mai 2023 König Charles III aus der Seitenlinie der deutschen Adelsfamilie Sachsen-Coburg und Gotha (seit 1917 als Windsor bekannt) zum König gekrönt wurde. Stattdessen beschäftigen wir uns im April mit einer weitgehend vergessenen Dynastie, dem Haus Savoyen.
Unsere Reise nach Turin beginnt mit einer Bahnfahrt von Genf nach Chambéry. Dafür gibt es drei Gründe:
Die Geschichte von Turin als Hauptstadt eines Königreichs beginnt und endet mit den Savoyern. Die Dynastie hat insgesamt 950 Jahre lang geherrscht, anfänglich in Savoyen, dann in Turin und schliesslich in Rom. Dabei hat sie ihren Namen immer beibehalten. In Savoyen ist das heutige Landeswappen die alte Flagge der Dynastie, und in Turin gehören die Bauten der Savoyer zum Kulturerbe unter dem Schutz der UNESCO.
Der zweite Grund: Die Eidgenossenschaft ist nicht das erste Staatswesen, das auf beiden Seiten der Alpen existiert. Uns interessieren die kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen den Gebieten beidseits der Alpen, die seit der Hochzeit von Adelaida von Susa mit Oddon von Savoyen im Jahr 1046 Teil eines gemeinsamen Staates waren – mit Unterbrüchen.
Drittens fanden wir die Überquerung der Alpen ausserhalb des bekannten schweizerischen Kontexts schon auf einer Reise über die Alpen von Augsburg nach Trient im Juli 2022 spannend und ästhetisch ansprechend. Wir führen mit dieser Reise also eine Tradition weiter.
Von Genf aus fährt unser Zug am 22. April der Rhone entlang nach Südwesten, hält in Bellegarde, fährt weiter dem Fluss und dem Jura entlang, zweigt bei Culoz nach Südosten ab und überquert die Rhone, erreicht das Nordufer des Lac de Bourget, hält in Aix-les-Bains und kommt nach etwas über einer Stunde in Chambéry an. Im Zug lernen wir unsere Mitreisenden kennen und freuen uns über das frische Grün des Frühlings.
In Chambéry liegt unsere Unterkunft, das Hôtel des Princes, zehn Minuten vom Bahnhof entfernt gleich neben den engen Gassen der Altstadt. Unterwegs sehen wir uns gleich noch zwei kleinere Sehenswürdigkeiten an: Die Statue La Sasson, die 1892 an den kurzlebigen Anschluss Savoyens an Frankreich 1792 erinnerte, und La Fontaine des Éléphants, ein Denkmal zu Ehren des Wohltäters Benoît de Boigne, der am Ende des 18. Jahrhunderts im Dienst indischer Fürsten reich wurde und vor seinem Tod 1830 sein Vermögen für die Entwicklung seiner Heimatstadt wieder ausgab.
Wenige Schritte vom Hotel entfernt liegt das Schloss der Grafen und späteren Herzöge von Savoyen. Die ersten Grafen tauchen um das Jahr 1000 auf und erhalten 1416 den Status von Herzögen. Sie werden 1713, inzwischen in der neuen Hauptstadt Turin, Könige von Sizilien, allerdings nur für sieben Jahre. Ab 1720 sind sie Könige von Sardinien, ab 1861 Könige von Italien.
Das Schloss ist heute Verwaltungsgebäude des Département 73. Vor dem verschlossenen Gittertor führt rechts eine Türe in den Raum der früheren Rechnungskontrollbehörde, der Chambre des Comtes. Dort befindet sich eine aufschlussreiche Ausstellung zur Geschichte der Stadt und der Dynastie. Ebenfalls empfohlen ist in der Altstadt die Ausstellung im Centre d’interprétation de l’architecture et du patrimoine im Hôtel du Cordon.
Das Département Savoie (73) ist in Frankreich eine Ausnahme, zusammen mit der Haute-Savoie (74), weil es einen historischen Namen tragen darf. Die Französische Revolution wollte jede Erinnerung an die Feudalherrschaft tilgen und benannte die neuen administrativen Einheiten nur nach geographischen Namen, nach Flüssen beispielsweise. 1792, als Savoyen Frankreich erstmals einverleibt wurde, entstand hier das Département du Mont-Blanc. Erst nach einer Volksabstimmung im Jahr 1860, nachdem Frankreich unter Napoleon III der italienischen Einheitsbewegung im Krieg gegen Österreich zum Sieg verholfen hatte, wurden Savoyen und Nizza definitiv Teil von Frankreich.
Zur Zeit unseres Besuches wartet das Musée savoisien noch auf seine Neueröffnung, während die Schlosskapelle, in der bis 1578 das Turiner Grabtuch aufbewahrt wurde, wegen Arbeiten geschlossen ist.
Abends essen wir mit unseren Mitreisenden in einem Restaurant an der Rue Juiverie in der Altstadt. Entrée, plat, dessert, wir sind in Frankreich, und le menu gastronomique des Français ist ein immaterielles Kulturgut unter dem Schutz der UNESCO.
Der 23. April beginnt als sonniger Sonntagvormittag. Er eignet sich für einen ruhigen Spaziergang zum stadtnahen und doch seltsam entrückten kleinen Tal, in dem das Haus Les Charmettes steht, wo der Genfer Jean-Jacques Rousseau die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht hat, nicht allein, sondern mit seiner Beschützerin und Liebhaberin, Madame de Warens. Das Haus entwickelte sich später zu einem Wallfahrtsort für Verehrerinnen und Bewunderer der freiheitlichen Ideen des Philosophen, dessen sterblichen Überreste seit 1794 einen Ehrenplatz im Pariser Pantheon haben. Das Gebäude, die Tapeten und ein Teil der Inneneinrichtung sind, so scheint es, ziemlich unverändert erhalten. Wir lesen einige Passagen vor aus Rousseaus Confessions über Madame de Warens und zu Rousseaus Aufenthalt in Chambéry.
Kurz nach Mittag nehmen wir den Zug in den wenige Minuten entfernten Kurort Aix-les-Bains am Lac de Bourget, Schauplatz einer anderen Liebesgeschichte. Hier traf der romantische Schriftsteller Alphonse de Lamartine 1816 die verheiratete und tuberkulosekranke Julie Charles, die sich hier zur Kur aufhielt. Die Liebe zur sterbenden Schönheit besingt Lamartine in seinem bekannten Gedicht Le Lac von 1820. Im Roman Raphaël, veröffentlicht 1849 nach einer erfolglosen Kandidatur als Präsident der Republik, wird die Liebe zu Julie dann als leidenschaftliche, aber asexuelle Besitzergreifung der Seele der Geliebten dargestellt. Da Lamartine in seinem Werk die Natur als Zeugin seiner Liebe anruft, kommen beim Betrachten des Sees Erinnerungen an Lamartines unglückliche Liebe hoch.
Den Hafen von Aix-les-Bains erreichen wir mit dem Bus vom Stadtzentrum aus. Von dort fährt ein Schiff über den See und der unberührten Steilküste entlang zur Abtei Hautecombe.
Graf Humbert III (1136-1189) zog sich nach dem Tod seiner dritten Ehefrau Clementia von Zähringen, der Tante des späteren Berner Stadtgründers Herzog Berchtold V von Zähringen, in tiefer Trauer in die Abtei zurück und wollte Mönch werden. Er hatte noch keinen Sohn, der der Dynastie das Überleben ermöglich hätte. Doch er liess sich umstimmen, heiratete ein viertes Mal, sorgte damit für Kontinuität und machte aus Hautecombe die Begräbnisstätte für seine Familie, wohl nach dem Vorbild von Saint-Denis. Es folgten Zeiten der Blüte und des Niedergangs der Abtei. Die Ruine wurde 1824, also zur Zeit der Restauration, von König Carlo Felice (Charles-Félix, 1765-1831) gekauft, in neu-mittelalterlichem Stil renoviert und als Abtei neu gegründet. Gleich beim Eintritt in die ehemalige Klosterkirche bemerkt man rechts und links die sitzenden Statuen des Königs und seiner Gattin Maria Cristina, Prinzessin von Neapel und Sizilien. Der Rundgang führt zu weiteren Grabmälern. Besonders gross ist dasjenige des Petit Charlemagne Peter I von Savoyen geraten, der im 13. Jahrhundert den savoyischen Besitz am Genfersee und im Waadtland mehrte.
Der warme Tag endet mit kräftigen Regengüssen, die wir der dürregeplagten Landwirtschaft gönnen.
Den 24. April beginnen wir mit einer Präsentation der Gebrüder Joseph und Xavier de Maistre, die als überlebensgrosse Statuen auf der Treppe zum Schloss von Chambéry stehen, und mit einem Spaziergang zur Kathedrale, die dem Heiligen Franz von Sales gewidmet ist, den wir ebenfalls vorstellen. Die Gewölbe, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgemalt im Stil des gothique troubadour, bilden das grösste Ensemble in trompe l’oeil-Manier in Europa.
Anschliessend besteigen wir den TGV Paris-Mailand, der gemächlich auf der alten Bergstrecke durch die Alpen fährt. An einem Basistunnel wird gebaut. Bis zur Eröffnung vergehen aber noch einige Jahre.
Der zwölf Kilometer lange Tunnel durch den Mont-Cenis, auch Tunnel du Fréjus genannt, wurde 1871 eingeweiht. Bis zur Eröffnung des Gotthardtunnels 1888 war er der längste Tunnel der Welt. Erfindungen wie der Pressluftbohrer wurden am Mont Cenis-Tunnel gemacht und kamen dann am Gotthard von Anfang an zum Einsatz.
In Turin beziehen wir unsere Zimmer im Hotel Roma e Rocca Cavour, das, passend zum Thema des Vortags, an der Piazza Carlo Felice liegt. Von dort aus führt die Via Roma schnurgerade zur Piazza San Carlo und weiter zum Platz vor dem Königspalast. Auf der Piazza San Carlo steht die Reiterstatue von Herzog Emanuele Filiberto, der dank des Sieges als Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen über Frankreich in der Schlacht von Saint-Quentin 1557 die Gebiete in Savoyen und im Piemont zurückerhielt, die sein Vater verloren hatte. Emanuele Filiberto verlegte die Hauptstadt seines Herzogtums 1563 nach Turin. Grosse Stadtteile neben der früheren Römerstadt Augusta Taurinorum wurden in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten grosszügig neu erbaut mit gleichmässigen Fassaden und kilometerlangen Arkaden.
Die Schlacht, aus der Emanuele Filiberto als Sieger hervorging, fand am 10. August statt, am Tag des Heiligen Lorenz. Nachdem die Savoyer in Turin ihre Herrschaft wieder konsolidiert hatten, wurde 1634 mit dem Bau einer Kirche zu Ehren des Heiligen Lorenz begonnen, nicht weit vom Palast des Herzogs. Der Bau kam nur schleppend voran, bis 1668 Guarino Guarini (1623-1684) beauftragt wurde, die Kirche fertigzubauen. Eine Herausforderung stellte sich für Guarini, Theologe des Ordens der Theatiner, Mathematiker und Architekt. Die Kirche musste praktisch ohne Kirchenfenster an Seitenwänden, im Chor oder an der Fassade gebaut werden – die Harmonie des Platzes vor dem Palast durfte nicht gestört werden. Sollte er eine Kirche ohne Licht bauen? Die für diesen Standort entwickelte Kuppelkonstruktion von San Lorenzo hat Fenster, die die Kirche von oben beleuchten, so dass man die Farben der wertvollen Marmorsteine sieht, aus denen die Kirche gebaut ist. Im Mai 1680 zelebrierte Guarini die Messe in der neuen Kirche. Heute halten Freiwillige die Kirche offen und erklären ihre Wunder den Besucherinnen und Besuchern.
Wir haben fünf volle Tage in Turin vor uns. Gibt es denn so viel zu tun und zu sehen? Jawohl. Man könnte noch mehr Zeit verbringen in dieser gediegenen Stadt mit ihren Arkaden, Kaffeehäusern, Läden, Museen und Kirchen, wo stilvoll gekleidete Menschen promenieren und in guten Restaurants essen. Armut und Obdachlose gibt es allerdings auch, das wollen wir nicht verschweigen, wie leider in den meisten Städten Europas.
Der 25. April ist in Italien ein Feiertag. An diesem Tag des Jahres 1945 kapitulierten in einigen norditalienischen Städten die deutschen Truppen, die 1943 nach der italienischen Niederlage in Sizilien, nach der Absetzung von Benito Mussolini und nach dem italienischen Separatfrieden mit den Alliierten das Land besetzten. Als alliierte Truppen anfangs Mai 1945 Turin erreichten, war die Stadt schon in der Hand der Partisanen.
Wir haben für diesen Tag Eintrittskarten für das Ägyptische Museum gekauft und befassen uns mit einer Vergangenheit, die sehr weit zurückliegt. Der Piemontese Bernardino Drovetti nahm als junger Mann am Ägyptenfeldzug Napoleons teil. Später wurde er französischer Konsul in Kairo und beteiligte sich an der europäischen Jagd auf die ägyptischen Altertümer. Nach dem Scheitern Napoleons hatte Frankreich aber nicht die Geldmittel, um Drovettis teure Sammlung zu kaufen. Dafür ergriff König Carlo Felice, der Käufer der Abtei Hautecombe, die Gelegenheit.
Die ägyptische Sammlung umfasst viele Papyri. Jean-François Champollion hatte 1822 eine Theorie zur Entzifferung der Hieroglyphenschrift veröffentlicht, die aber anfänglich bei Wissenschaftlern umstritten war. Von Juni 1824 bis November 1825 hielt er sich in Turin auf, entzifferte Texte und konnte so seine Annahmen bestätigen. Und dank einem Papyrus in Turin konnte der deutsche Ägyptologe Karl Richard Lepsius 1842 erstmals Das Todtenbuch der alten Ägypter veröffentlichen.
Bei den Kulturgütern aus dem alten Ägypten fällt die Beschäftigung mit Fragen des Todes und der Wiedergeburt auf. Einige Vorstellungen wurden von späteren Religionen übernommen, beispielsweise die Idee, dass die Seele des Verstorbenen nach dem Tod gewogen wird.
Nicht weit vom ägyptischen Museum steht der von Guarini erbaute Palazzo Carignano, ein Bau mit geschwungener Fassade. Im Palast der Seitenlinie der Dynastie wurde 1820 der erste König Italiens, Vittorio Emanuele II, geboren. Heute ist dort das Museo nazionale del Risorgimento untergebracht, das den blutigen Prozess der italienischen Einigung dokumentiert. Im Gebäude befindet sich auch der unveränderte Saal des Parlamento subalpino.
Am 26. April fahren wir mit dem Bus zur Venarìa Reale, ursprünglich ein königliches Jagdschloss, vergleichbar mit Versailles. Diese Sommerresidenz der Herzöge und späteren Könige von Sardinien im Wesentlichen zwischen 1659 und 1727 geplant und gebaut. Während der napoleonischen Eroberung beschädigt, verloren die Residenz und das umliegende Städtchen seine Funktion. Seit 1997 unter dem Schutz der UNESCO, ist die Reggia seit 2007 für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Grande Galleria übertrumpft die Spiegelgalerie im Schloss von Versailles in der Länge und in der Höhe. Sehenswert in der Venarîa sind auch die ehemaligen Stallungen (grande scuderia), in denen die Kutschen und das vergoldete Prunkschiff des Hofes ausgestellt sind.
Unser Abendprogramm an diesem Mittwoch: die Oper Die Zarenbraut von Nikolai Rimski-Korsakow im Teatro Regio.
Am 27. April besuchen wir den Stadtpalast der Herzöge und Könige, den Palazzo Reale. Schon im Treppenaufgang zum piano nobile beginnt das Staunen. In den Wohnräumen des Palasts erklären eifrige Lehrerinnen aufmerksamen Schulklassen die Geschichte des Piemonts und seiner Herrscherfamilie.
Der Rundgang führt auch in die Kapelle des Turiner Grabtuchs, Capella della Sindone, deren unvergleichliche Kuppel Guarino Guarini vor seinem Tod 1683 fertigstellte. Nach einem verheerenden Brand 1997 wurde die Kapelle wieder hergestellt. Prächtig ist auch die barocke Galerie mit der königlichen Waffensammlung, die Armeria reale. Am Ende des Rundgangs befindet sich die sehenswerte Gemäldesammlung der Dynastie, die Galleria sabauda, im Untergeschoss die Antikensammlung.
Nach einer Mittagspause besuchen wir den Dom, gehen weiter und trinken ein Gläschen, piemontesisch bicerin – ein traditionelles Turiner Getränk mit Kakao, Kaffee und Milch – im Lokal mit gleichem Namen, das seit 1763 besteht.
Dann besuchen wir gleich gegenüber die Kirche La Consolata. Sie ist ein weiteres architektonisches Wunderwerk des Barocks, an dem Guarini, Filippo Juvarra (1678-1738) und andere massgeblich mitgearbeitet haben. Im Marienheiligtum zeigen Votivbilder, dass der Ort für Tröstung, Schutz und spirituelle Hilfe aufgesucht wird. In einer Seitenkapelle stehen die Skulpturen zweier betender Königinnen, ein Werk des Tessiner Bildhauers Vincenzo Vela.
Einige Mitreisende begleiten uns gegen Ende des Nachmittags in den Stadtteil Lingotto. Wir besuchen die in den 1920-er Jahren für die Fliessbandarbeit erbaute Autofabrik der FIAT, besichtigen die Rampen im fünfstöckigen Gebäude, die auf die Piste auf dem Dach führen, und essen im nahen Eataly, ebenfalls in einer ehemaligen Fabrik.
Leider ist am Freitag 28. April die Fernsicht nicht optimal – die Regenfälle vom kommenden Sonntag und Montag kündigen sich an. Wir haben für diesen Tag Karten für den Panoramalift zur Terrasse des höchsten je aus Ziegeln erbauten Gebäudes der Welt. Es handelt sich um die Mole Antonelliana, 167 Meter hoch, erbaut zwischen 1863 und 1889 vom Architekten Alessandro Antonelli (1798-1888), abgebildet auf jeder in Italien geprägt 2-Cents-Münze. Ursprünglich sollte daraus eine Synagoge werden, aber der Architekt hatte ambitiösere Pläne als die jüdische Gemeinde. Im Gebäude befindet sich heute das Museo nazionale del cinema, das einige Mitreisende besuchen.
Im prächtigen Kaffeehaus Baratti & Milano von 1875, neben der sehenswerten Einkaufspassage Galleria subalpina, sprechen wir anschliessend über den Aufenthalt von Friedrich Nietzsche in Turin.
Am Nachmittag macht sich unsere Gruppe auf zu einer Fahrt mit der Strassenbahn ins Quartier Sassi. Von dort aus führt eine Zahnradbahn auf den Hügel von Superga. Der Triebwagen aus dem Jahr 1934 hat aber bei unserem Besuch einen Defekt, und so erreichen wir mit einem Ersatzbus den Hügel 430 Meter über der Stadt.
Dort besuchen wir die von Filippo Juvarra zwischen 1717 und 1731 erbaute Basilika (der Begriff ist hier kirchenrechtlich gemeint, nicht architektonisch). In der Kirche wird an die fast vier Monate dauernde Belagerung Turins durch französische Truppen im Jahr 1706 erinnert und daran, dass Herzog Vittorio Amadeo II und sein Cousin Prinz Eugen, der ein kaiserliches Heer anführte, hier oben standen vor ihrem siegreichen Angriff gegen die Belagerer. Der Sieg führte im Frieden von Utrecht 1713 dazu, dass aus dem Herzog ein König wurde.
Zu besichtigen gibt es in Superga die königlichen Gemächer und die Räume der Geistlichen, die auf dem Hügel wohnten, die grosse Krypta mit den Gräbern von Königen, Königinnen und anderen Mitgliedern der Dynastie sowie die Kuppel mit ihrer einmaligen Aussicht.
Am letzten Tag unseres Aufenthaltes, am 29. April, besuchen wir die königliche Residenz in der Kleinstadt Racconigi südlich von Turin, die wir in einer halben Stunde mit dem Zug erreichen. Carlo Alberto di Savoia-Carignano, König von 1831 bis 1849, verwendete das Schloss als Sommerresidenz für sich und seine Familie. Auch Vittorio Emanuele III, König von Italien von 1900 bis 1946, hielt sich häufig hier auf und empfing hohe Gäste. Wir besichtigen das Gebäude im Rahmen einer Führung. Das Schloss wurde nie als Verwaltungsgebäude oder Kaserne zweckentfremdet, deswegen ist auch die eindrückliche Küche unverändert erhalten.
Am Abend essen wir in Turin gemeinsam im Restaurant La Capannina, das wir hiermit sehr gerne weiterempfehlen.
In der Nacht regnet es, und der Himmel ist am Tag unserer Rückreise wolkenverhangen. Bevor wir unser Hotel Roma e Rocca Cavour verlassen, sprechen wir über Cesare Pavese, der sich 1950 im dritten Stock des Hotels das Leben nahm, und über weitere bedeutende Turiner Autoren der unmittelbaren Nachkriegszeit (Natalia Ginzburg, Italo Calvino). Die Lektüre ihrer Bücher empfehlen wir, ebenfalls das stilvolle Hotel, das seit 1854 von der gleichen Familie geführt wird.
Dann fahren wir mit dem Regionalschnellzug durch Reisfelder, stellen fest, dass die ausgetrocknete Poebene Wasser braucht, erblicken in Novara vom Zug aus ganz kurz eine weitere architektonische Hinterlassenschaft von Antonelli, und steigen um in einen Regionalzug, der langsam – slow travel – in zwei Stunden die 90 Kilometer bis Domodossola zurücklegt. Dort reicht es für einen Kaffee an der Bar im Bahnhof.
Ich verlasse Italien, seit der Volksabstimmung von 1946 eine Republik, etwas wehmütig. Der im Stehen rasch getrunkene, gute und preisgünstige Kaffee fehlt mir nach wenigen Tagen in der Schweiz. Und unsere Mitreisenden vermisse ich auch.