Erasmus von Rotterdam in Basel, 20. Juni 2020

Den Ausflug nach Basel zum Thema Erasmus von Rotterdam hatten wir für den 21. März geplant. Am 20. Juni konnte er stattfinden, mit 19 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.

Am Anfang stand die Idee, die Stadt zu besuchen, die sich als Kulturhauptstadt der Schweiz bezeichnet, mit der Frage, wie die Stadt zu ihrer besonderen Beziehung zur «Kultur» kam.

Bei der Suche nach Antworten stiess ich auf Erasmus von Rotterdam.

Unser Rundgang durch Basel begann beim Stadtplan vor dem Bahnhof SBB. In dunkler Farbe eingezeichnet ist die Altstadt. Auf dem Plan kann man erklären, welche Flüsse durch die Altstadt fliessen (der Rhein und der Birsig) und welche nicht (die Birs, neben ihr das Siechenhaus Sankt Jakob an der Birs für die Pestkranken, weit ausserhalb, ganz im Sinn des «social distancing»).

Vom Stadtplan aus sieht man hinter den Strassenbahnen ein Denkmal. Vom gleichen Bildhauer stammt die Freiheitstatue in New York, die noch etwas bekannter ist.

Der Innenhof des Rathauses eignet sich für Erläuterungen zur Geschichte. Neben der Treppe, die ins Obergeschoss führt, steht seit 1580 auf einem Podest Lucius Munatius Plancus, Caesars Statthalter in Gallien, der angebliche Stadtgründer. In einer Ecke stehen etwas versteckt die ursprünglichen Statuen des Kaisers Heinrich II und seiner Frau Kunigunde, Stifter des Basler Münsters im Jahr 1019, beide später heiliggesprochen, und der Jungfrau Maria, nach der Reformation zur Justitia umfunktioniert. Besser sichtbar sind die Kopien dieser Statuen oben an der Aussenfassade. Das Bild zeigt die beiden Stifter kniend zu Füssen des Gekreuzigten auf der goldenen Altartafel, die zum tausendjährigen Jubiläum des Münsters in Basel ausgestellt war.

Die Bemalung des Rathauses stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert, wurde einige Male aufgefrischt und zeigt die Flaggen der damaligen Bündnispartner der Stadt, die seit 1501 der Eidgenossenschaft angehört. Das Rathaus ist historisch betrachtet nicht das erste, sondern das zweite Machtzentrum der Stadt.

Als Erasmus von Rotterdam im Jahr 1514 nach Basel kam, suchte er nicht in erster Linie Kontakt zu Intellektuellen, sondern begab sich zur Druckerei des Johannes Froben im Haus zum Sessel am Totengässli 2. Erasmus soll sich bei der Begrüssung als bevollmächtigter Unterhändler des bekannten Erasmus vorgestellt haben. Eine Grabtafel für Froben mit Inschriften in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache finden wir in der nahen Peterskirche.

Erasmus war 1466 oder 1467 als Sohn eines katholischen Priesters und einer Arzttochter in Rotterdam geboren worden. Nach dem frühen Tod der Eltern wuchs er unter der Obhut seines Onkels auf, trat als Zwanzigjähriger ins Augustiner-Chorherrenstift Stein bei Gouda ein, verbrachte Tage und Nächte in der Klosterbibliothek und begeisterte sich für die lateinische Klassik. Dem Bischof von Cambrai, der eine Reise nach Rom plante, fielen seine redaktionellen Fertigkeiten auf. Er plante, den jungen Mönch mitzunehmen. Die Reise fand dann nicht statt, dafür verschaffte der Bischof dem wissensbegierigen Erasmus einen Studienplatz an der Sorbonne. Im Studentenwohnheim Collège de Montaigu gab es feuchte Schlafplätze und verdorbenes Essen, auch Schläge und Peitschenhiebe für weniger begabte Studenten. Erasmus aber liebte hygienische Verhältnisse. Durch Privatstunden machte er sich finanziell unabhängig. Für seine Schüler schrieb er die Colloquien in lateinischer Sprache, unterhaltsame Dialoge, die sich auch ohne Peitschenhiebe gut einprägten.

Auf einer Reise nach England lernte Erasmus den Juristen und Philosophen Thomas More (Morus) und andere aufgeklärte Adelige kennen. Thomas More, Autor des Buches «Utopia» 1516, später Lord High Chancellor of England, wurde 1535 wegen Hochverrat hingerichtet und später heiliggesprochen – eine andere Geschichte, die man auf einer Reise nach England erzählen müsste.

Zurück auf dem Kontinent nach der Reise nach England hatte Erasmus Geldsorgen, weil man ihm an der Grenze das in England verdiente Geld konfisziert hatte. Erasmus publizierte die Adagia, eine Sammlung von Sprichwörtern der Antike, sie sich gut verkaufte.

Erst im Jahr 1506 reiste Erasmus zum ersten Mal nach Italien. Sein Ruf als Wissenschaftler ermöglichte ihm den Zugang zu Bibliotheken mit alten Handschriften, zum Beispiel zu den Annotationes von Lorenzo Valla, eines päpstlichen Philologen, der in der Vulgata, der anerkannten Version der lateinischen Bibel, Übersetzungsfehler entdeckt hatte.

Auf der Rückreise von Rom Richtung Norden besuchte Erasmus in Venedig den Verleger Aldus Manutius, dessen Druckerzeugnisse ihm besonders gefielen. Beim Überqueren des Septimerpasses soll ihm die Idee für seinen nächsten Bestseller eingefallen sein, für ein Buch mit dem Titel Μωρίας ἐγκώμιον oder Laus Stultitiae, übersetzt Lob der Torheit, englisch In Praise of Folly, französisch Éloge de la folie, den er Thomas More widmete. Eine personifizierte Torheit beschreibt darin den normalen Wahnsinn in der Gesellschaft. Mit dem Umweg über die Torheit konnte Erasmus sich eine Kulturkritik leisten, ohne selbst als Kritiker im Mittelpunkt zu stehen.

Nachdem der Abt seines Klosters Eramus gebeten hatte, nach seinen Reisen wieder in das Kloster zurückzukehren, erwiderte Erasmus, er nütze der Theologie mehr als Wissenschaftler, bat den Papst um einen Dispens, den er auch erhielt, und machte sich daran, die Briefe des Hieronymus zu publizieren.

Erasmus besuchte Froben in Basel, weil dieser das «Lob der Torheit» mit aldinischen Schrifttypen gedruckt hatte, und zwar noch fast perfekter als Aldus Manutius selbst. Während Jahren lebte Erasmus dann bei Froben in Basel und arbeitete mit dem Drucker zusammen. Der in Basel wirkende Hans Holbein porträtierte in Basel Erasmus und seine Freunde. Er kümmerte sich auch um Frobens Werbegrafik – das Bild im Kunstmuseum Basel nimmt Bezug auf einen Rat, den Christus seinen Jüngern erteilt (Matthäus Kapitel 10, Vers 16): «Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben».

Zurück zu den Briefen des Hieronymus. Der Heilige wird in der Malerei oft in der Wüste, in der Wildnis, in der Einöde dargestellt, oder beim Schreiben, zusammen mit Büchern, manchmal mit einem Totenschädel auf dem Schreibtisch. Dürer, Cranach, Rubens, Michelangelo, Caravaggio und viele andere haben ihn so dargestellt. Er ist einer der vier wichtigen Kirchenväter (mit Ambrosius, Bischof von Mailand, mit dem in Pavia begrabenen Augustin, mit dem Papst Gregor). Sophronius Eusebius Hieronymus lebte von 347 bis 420, studierte in Rom und Konstantinopel, liess sich schliesslich in Bethlehem in Palästina nieder und übersetzte die gesamte Bibel in die lateinische Sprache. Seine Übersetzung, die Vulgata, war über tausend Jahre lang der einzige und massgebliche Bibeltext der römisch-katholischen Kirche in lateinischer Sprache.

In seiner Publikation unterschied Erasmus zwischen Briefen, die Hieronymus geschrieben hatte (und die er in Band I veröffentlichte), Briefen, die Hieronymus möglicherweisen geschrieben hatte (Band II), und angeblichen Briefen des Hieronymus, die aber nicht von ihm stammen konnten (Band III). 1516 veröffentlichte Erasmus dann ein noch wichtigeres Werk, nämlich eine vollständige Neuübersetzung der gesamten Bibel in die lateinische Sprache. Dabei stellte er den hebräischen Originaltext des Alten Testaments und den griechischen Originaltext des Neuen Testaments seiner neuen Übersetzung gegenüber und fügte erklärende Anmerkungen hinzu. Die neue Übersetzung hatte Folgen für die christliche Lehre, für Busse und Beichte, für die Vorstellung der Erbsünde, für die Ehe. Für seine deutsche Übersetzung der Bibel verwendete Martin Luther die Arbeit des Erasmus als wichtige Grundlage.

Erasmus war ein Renaissance-Humanist und Pazifist zu einer Zeit, als es die drei Begriffe Renaissance, Humanismus und Pazifismus nicht gab. Zwischen 1515 und 1517 veröffentlichte er drei Schriften gegen den Krieg: Dulce bellum inexpertis («Süss erscheint der Krieg den Unerfahrenen»), Institutio Principi Christiani («die Erziehung des christlichen Fürsten», eine Antwort auf Machiavellis Buch Il Principe von 1513, das auch unmoralische Mittel zum Machterhalt empfiehlt), und Querela pacis («die Klage des Friedens»). Während der Kirchenvater Augustin seinerzeit Prinzipien für den gerechten Krieg formuliert hatte, wies Erasmus darauf hin, dass «die ganze Lehre Christi gegen den Krieg gerichtet» ist, und dass Christus den Krieg nie und unter keinen Umständen gerechtfertigt hat.

Erasmus wollte eine Reform der Kirche, aber eine Spaltung der Kirche lehnte er ab. Er war überzeugt, dass man mit dem Papst zusammen anstehende Probleme lösen konnte. So dachte er, es sollte den Priestern gestattet sein zu heiraten, falls sie sowieso nicht keusch leben konnten. Die Zerstörung von Heiligenbildern und Statuen bedauerte er. Nachdem er Luther anfänglich als humanistischen Mitstreiter verteidigt hatte, lehnte er dessen Dogmatismus später ab. Luther und Erasmus waren sich nicht einig, was den freien Willen des Menschen betrifft. Luthers Denken («Der Mensch wird entweder von Gott oder vom Teufel geritten») teilt die Menschheit grob in Gute und Böse und erlaubt keine Persönlichkeitsentwicklung, weil Rettung oder Verdammnis von vornherein feststeht, während Erasmus den Menschen als lernfähiges Wesen betrachtet. Erasmus fand auch den Versuch problematisch, einen angeblichen Willen Gottes mit staatlicher Gewalt durchzusetzen. Schliesslich lehnte Erasmus die Vorstellung der Reformatoren ab, sie könnten zum ursprünglichen Christentum zurückkehren, ohne sich um die Kirchengeschichte zu kümmern. Sie sei so absurd wie der Wunsch, aus einem Erwachsenen wieder ein Kleinkind zu machen.

Luther seinerseits warf Erasmus darauf vor, ein Zweifler zu sein, ein Ungläubiger, schliesslich bezeichnete er ihn als diabulum incarnatum, als leibhaftigen Teufel.

Im Zug der katholischen Gegenreformation wurde Erasmus dann auch von den Katholiken verteufelt. Seine Schriften kamen auf den Index der verbotenen Bücher.

Dem Aufbruch der Renaissance folgte kein Zeitalter der Vernunft, der Toleranz und der Nächstenliebe, sondern eine Polarisierung mit Denkverboten auf beiden Seiten, mit tödlichen Religionskriegen, die grosse Teile Europas zerstörten, mit neuen Höhepunkten der Inquisition und vielen anderen Übeln.

Fünf Jahre lang, von 1524 bis 1528, hörte der Rat von Basel auf Erasmus und positionierte sich weder für noch gegen die Reformation. Als die weltlichen Behörden von Basel anfangs 1529 die Reformation aber einführten, begab Erasmus sich an die Schifflände, verabschiedete sich freundlich und fuhr flussabwärts nach Freiburg im Breisgau. 1534, zwei Jahre vor seinem Tod, kehrte Erasmus nach Basel zurück, um bei Hieronymus Froben, dem Sohn seines verstorbenen Druckerfreundes Johannes Froben, Neuauflagen seiner Colloquien und seiner Anmerkungen zum Neuen Testament sowie ein vierbändige Predigtlehre drucken zu lassen.

Eigentlich war es nach der Reformation verboten, Tote im Münster zu beerdigen. Für Erasmus machte man eine Ausnahme. Drei Freunde bezahlten die Grabplatte, die man im Münster sieht. Einer von ihnen war der Jurist Bonifacius Amerbach. Diesem vermachte Erasmus seinen Nachlass, verschiedene Habseligkeiten und eine Truhe mit dem Porträt des Humanisten, die man heute im Historischen Museum in der ehemaligen Barfüsserkirche sehen kann.

Die Sammlung des Sohnes von Amerbach sollte 1661 ins Ausland verkauft werden. Bürgermeister Johann Wettstein, bekannt durch seine Rolle als Gesandter am Westfälischen Friedenskongress, intervenierte. Die Sammlung blieb in Basel. Und trägt bis heute dazu bei, dass Basel sich Kulturhauptstadt der Schweiz nennen darf.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass unser Erasmus-Rundgang vom Totengässli zur Peterskirche führte, vor der eine Büste des alemannischen Dichters Johann Peter Hebel steht, dass wir von dort auf den Nadelberg (Wohnort von Erasmus von 1522 bis 1529) und den Heuberg gelangten, weiter zur sehenswerten Leonhardskirche, die leider geschlossen war, und weiter zum Haus an der Bäumleingasse, in dem Erasmus gestorben ist, und zum Bischofshof, also zum historisch ersten Machtzentrum der Stadt.

Von dort war es dann nicht mehr weit zum Kreuzgang des Münsters (dort zu sehen ist ein Epitaph für Hieronymus Froben und ein Kunstwerk in der Form eines Markttischs, auf dem ein Text von Johann Peter Hebel zu lesen ist), weiter zur Pfalz, zur Galluspforte des Münsters, ins Münster hinein und direkt zur Grabplatte des Erasmus mit der Darstellung des Gottes Terminus, der als passender Schlusspunkt des morgendlichen Rundgangs diente.

Nach einer Mittagspause trafen wir uns auf der Mittleren Brücke wieder, beim sogenannten Käppelijoch. Walter, langjähriger IKRK-Delegierter, hatte sich bereit erklärt, uns sein Quartier auf der rechten Seite des Rheins zeigen. Sein erster Hinweis galt jedoch der Inschrift auf der gegenüberliegenden Seite des Käppelijochs, die darauf hinweist, dass Basel nicht immer die tolerante Stadt war, die Erasmus so schätzte. Das Käppelijoch diente auch als Richtstätte, zum Beispiel für Hexen.

Beim Café Spitz auf der Kleinbasler Seite konnten wir feststellen, dass trotz Umbauten das Geländer der Terrasse unverändert geblieben ist seit 1869, als hier die (ausschliesslich männlichen) Vertreter der europäischen Arbeiterschaft auf einem Kongress der Internationalen Arbeiter-Assoziation die Überwindung des Kapitalismus planten. Mit auf der Photographie sind der Anarchist Michail Bakunin und der Vater des 1919 erschossenen Kommunisten Karl Liebknecht.

Walter wollte uns in seinem multikulturellen Quartier keine «Soweto-Tour» anbieten, sondern zeigte uns im rechtsrheinischen «minderen Basel» den belebten Rheinweg, die Kartause und die Orte der ehemaligen Klöster Sankt Clara und Klingenthal sowie die ehemalige Kaserne, heute Zentrum für die Theater- Tanz-, Performance- und Konzertszene mit Räumlichkeiten für Kneipen und für eine Moschee. Er weist die Vorstellung zurück, dass ein Leben in Kleinbasel mit seinem hohen Ausländeranteil gefährlich sei, erwähnt verschiedene soziale Initiativen zur Reduktion von Arbeitslosigkeit und Armut, und erinnert als stolzer Lokalpatriot daran, dass nicht der Schweizer Bundesrat, sondern die baselstädtische Regierung schon im Februar 2020 die Fasnacht, das zentrale Ereignis im Jahresablauf, abgesagt hat, um die Stadt vor der Epidemie zu schützen.

Zur Integration und sozialen Mobilität der eingewanderten Bevölkerungen und ihrer Nachkommen sei angemerkt, dass die model minority der Basler Aleviten mit zwei Nationalräten übervertreten ist, was in der toleranten Stadt aber wohl niemanden wirklich stört.

Zwei Bemerkungen zum Schluss.

Erstens, ein Basilisk ist ein Mischwesen zwischen Schlange und Hahn, zu bestaunen auf metallenen Brunnen oder als Halter des Wappens mit dem bischöflichen Baselstab.

Zweitens zeigt der Lällenkönig in Grossbasel den Kleinbaslern die Zunge nicht grundlos, sondern als Antwort auf die wilden Tänze der drei Ehrengesellschaften Kleinbasels, die traditionellerweise im Januar auf der Mittleren Brücke den Grossbaslern nicht nur den Rücken, sondern auch ein anderes Körperteil zuwenden.