9. – 17. März 2022: Neapel und die Küste von Amalfi

Der 9. März ist nördlich der Alpen ein klarer, kalter und sonniger Tag. Zum ersten Mal brechen wir zu einer solchen Reise nicht an einem Samstag auf, sondern an einem Mittwoch. Ein richtiger Entscheid. Der Zug, der an diesem Tag von Basel via Bern, Lötschberg und Simplon kurz vor 11 Uhr im Mailänder Hauptbahnhof eintrifft, ist nicht überfüllt. Dasselbe gilt für den Zug aus Zürich, der einige Minuten später ankommt. Wir finden die sieben angemeldeten Reisenden gesund, munter und glücklich und lernen sie in der Bar mit neapolitanischen Backwaren gleich neben den Geleisen kennen.

Es sind sympathische und interessierte Mitmenschen. Ohne sie hätten wir diese Reise nicht gemacht. Wir hoffen, sie wiederzusehen.

Nach unserer Kaffeepause steigen wir am Mittag in den Hochgeschwindigkeitszug Italo, der bald mit 300 km/h durch die Poebene rast, den Bahnhof Bologna und den Apennin ohne Halt unterquert, auch in Florenz durchfährt, nach einem kurzen Halt in Rom weiterfährt und schliesslich die Ebene vor Neapel auf einem langen Viadukt überquert, damit man auf der linken Seite den noch verschneiten Vesuv erblickt. Kurz vor 17 Uhr kommen wir im Hauptbahnhof Neapel an.

Wir überqueren den Fussgängerstreifen vor dem Bahnhof, marschieren durch eine Gasse und beziehen unsere sauberen, einfachen und stilvollen Zimmer im Hotel Ibis Styles Napoli Garibaldi. Es gibt dort Fenster, von denen aus man die Gleise der altertümlichen Vorortsbahn Circumvesuviana erblickt. Manchmal, wenn ein Zug vorbeirattert, zittert das ganze Haus. Aber Gefahr droht keine, gebaut wird hier erdbebensicher, und zwischen 23 und 6 Uhr verkehren keine Züge.

Im Viertel und auf der Piazza Garibaldi, also auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof, gibt es einige Restaurants, in denen man neapolitanische Speisen und Wein aus der Region Kampanien zu vernünftigen Preisen essen kann.

Der anschliessende Verdauungsspaziergang führt uns durch das Stadttor Porta Nolana in die Altstadt. Abblätternde Farben an Hochhäusern des vorindustriellen Zeitalters, enge Gassen, zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Das nächtliche Neapel erinnert zwei Mitreisende an Havanna. Bald sind wir im Rione Forcella. Im Erdgeschoss eines Hochhauses ist noch ein Laden geöffnet, an Schnüren befestigte Körbe werden verwendet, um kleine Einkäufe in die oberen Stockwerke zu befördern. Durch eine enge Gasse gehen wir hoch zur Via dei Tribunali, dann verlassen wir die Altstadt wieder beim Castel Capuano, das auch tagsüber nicht zu besichtigen ist, gelangen zum Denkmal von Giuseppe Garibaldi, der 1861 die Eigenstaatlichkeit Süditaliens beendete, und kehren ins Hotel zurück.

Den 10. März beginnen wir mit einer Fahrt auf der Linie 1 der Metro. An der Haltestelle Municipio gelangen wir ans Tageslicht. Wenige Schritte, und wir sind vor dem Eingang des Castel Nuovo in beherrschender Lage über dem Hafen. Diese Festung, auch unter dem Namen Maschio Angioino bekannt, eignet sich für einen Überblick über die Geschichte der Stadt, die vor etwa zweieinhalbtausend Jahren als Neapolis (Neustadt) gegründet wurde, neben der etwa 250 Jahre älteren Paläopolis. In der Nähe, beim Castel dell’Ovo, wurde gemäss der Überlieferung die unglückliche Sirene Parthenope tot an den Strand angeschwemmt, die neapolitanische Stadtgöttin der Antike.

Die Römer belagern Neapel im Jahr 326 vor Christus und zwingen der Stadt einen Freundschaftsvertrag und ihre Herrschaft auf. Neapel behält die innere Autonomie und die griechische Sprache bei. Bald kommen die reichen Römer nach Neapel, wenn sie das Leben geniessen wollen. Die Theater werden ausgebaut, Bäder entstehen, der Dichter Vergil verbringt hier fünfzehn Jahre. Kaiser Augustus stirbt in Kampanien, Kaiser Tiberius wohnt meist auf Capri, Nero lässt hier seine Stücke im Theater spielen und seine Mutter umbringen. Die griechische Kultur wird zur Leitkultur, Rom wird hellenisiert. Der letzte Kaiser des weströmischen Reichs, Romulus Augustulus, verewigt in Dürrenmatts Drama Romulus der Grosse, verbringt nach seiner Absetzung seinen Lebensabend in Neapel.

Später gehört Neapel zu Byzanz. Es gelingt weder den Langobarden noch den Sarazenen, die Stadt zu erobern. Als Verbündete im Kampf gegen die Langobarden bieten sich die Normannen an, die im 9. Jahrhundert von der Normandie nach Kampanien kommen. Der Normanne Roger oder Ruggero II lässt sich 1130 in Palermo zum König von Sizilien krönen, ab 1140 regiert er auch in Neapel. Die Normannen, die in Sizilien und Apulien UNESCO-Weltkulturgüter hinterlassen, beherrschen Neapel bis 1194, dann setzen sich die Armeen des Kaisers Heinrich VI von Hohenstaufen durch. Dieser ist der Sohn von Kaiser Friedrich I Barbarossa, der sich in Italien nicht mit einer indirekten Herrschaft durch Vasallen begnügte, sondern sechsmal mit seinen Armeen nach Italien zog und dabei den Ambitionen des Papstes in die Quere kam. Der Sohn von Heinrich VI ist Friedrich II, der in Palermo aufgewachsen ist. Friedrich II herrscht 39 Jahre lang, hält sich dabei meist in Sizilien und Süditalien auf, spricht lateinisch, griechisch, arabisch, sizilianisch, okzitanisch und mittelhochdeutsch, schreibt ein Buch über die Jagd mit Falken. Er versetzt die Welt in Staunen, wird deswegen als stupor mundi bekannt.

Die Staufer regieren nicht ewig. Nach einem militärischen Sieg übernimmt die Macht ein Anhänger des Papstes, Karl von Anjou oder Carlo d’Angiò, der jüngere Bruder des französischen Königs Ludwigs IX, der in Frankreich als Saint Louis verehrt wird. Sein Gegner, der letzte Staufer, wird im Oktober 1268 auf dem Marktplatz von Neapel geköpft. Es ist der 16-jährige Teenager König Konrad IV, Herzog von Schwaben, König von Jerusalem und König von Sizilien, in Neapel Corradino Svevo genannt.

Wichtig für die Geschichte der Stadt ist, dass Karl von Anjou die Hauptstadt des Reiches von Palermo nach Neapel verlegt. In Sizilien ist man unzufrieden, es kommt zur Sizilianischen Vesper von 1282, zum Massaker an den Franzosen. In Neapel kann die Anjou-Dynastie weiterhin herrschen.

Der Enkel von Karl, Roberto d’Angiò, gilt als weiser König. Er baut das Kastell zur Residenz aus. Zu Gast bei ihm sind die Klassiker der italienischen Literatur, Boccaccio und Petrarca. Unter ihm entstehen die Kirchen San Lorenzo und San Domenico maggiore, das Kloster Santa Chiara, und der Dom wird umgebaut. Für die Armen und Gebrechlichen sorgen erstmals religiöse Stiftungen. Weniger positiv wird in der Geschichte die Herrschaft der Anjou-Herrscherinnen Giovanna I und II beurteilt.

Alfons V von Aragón erobert 1442 die Stadt. Der Eingang zum Castel Nuovo ist ein Triumphbogen im Stil der Renaissance aus weissem Marmor, der den Triumphzug des Siegers abbildet. Die Mauern des Kastells werden mit schwarzem Lavastein neu aufgebaut in einer Mächtigkeit, die vor neuen Artilleriegeschossen schützen soll.

Nach Alfonso übernimmt sein Lieblingssohn Ferdinando I oder Ferrante die Macht. Einige Adlige verweigern dem unehelich geborenen König aber ihre Gefolgschaft. Ferrante kommt ihnen entgegen, versöhnt sich mit ihnen, lädt sie ein zu einer Hochzeit in den Thronsaal der Festung – und verhaftet dort diejenigen, die in der Vergangenheit nicht loyal waren. Die meisten werden dann wegen Hochverrat hingerichtet. Wegen dieser Geschichte nennt sich der überraschend geräumige Thronsaal auch Sala die Baroni. Die achteckige Konstruktion der Decke ähnelt der Decke der Kapelle der Kathedrale von Valencia, in welcher der Kelch aufbewahrt ist, aus dem Jesus beim letzten Abendmahl getrunken hat, der Heilige Gral also. Auch andere Orte behaupten, den Kelch zu besitzen, beispielsweise die Stadt Genua, die wir im Februar 2020 besucht haben. Hat Jesus aus verschiedenen Kelchen getrunken?

Wer im Castel Nuovo eine Führung bucht, kann neben dem Thronsaal auch die Terrasse besuchen, von der aus man den Hafen und die Stadt mit dem Vesuv im Hintergrund überblickt. Das heisst Treppen steigen, der Lift ist kaputt. Tipp für Individualreisende: Der Eintritt ins Castel Nuovo ist nur möglich nach einer vorgängigen Reservation auf der Website der Stadtgemeinde. Die Bezahlung des Eintritts erfolgt beim Besuch und ist im Prinzip nur mit Karte möglich. Die Führung aber wird von Privaten durchgeführt, die aber akzeptieren nur Bargeld (Stand November 2021 und März 2022).

Nach dem Besuch des Kastells teilen wir unsere Gruppe auf und suchen uns ein Restaurant im Viertel Quartieri spagnoli. Es gibt dort unzählige Verpflegungsmöglichkeiten.

Wir treffen die ganze Gruppe wieder an der Talstation der Drahtseilbahn Funicolare centrale. Diese bringt uns in die Höhe. Von dort geht es  auf Rolltreppen weiter nach oben und den Wegweisern entlang zum Kloster San Martino über der Stadt. Um den Mitreisenden einen Überblick über das Häusermeer zu ermöglichen, haben wir diese Besichtigung am ersten Tag vorgesehen. Der Klosterkomplex ist aber auch ein herausragendes Beispiel für die Architektur und überbordende Kunst des Barockzeitalters.

Zum Abschluss des Tages besuchen wir eine vielbesuchte Sehenswürdigkeit, für die es ratsam ist, die Tickets im Vorverkauf zu erwerben. Es ist die Cappella Sansevero, eine Grabstätte, die der exzentrische Alchimist, Erfinder und Freimaurer Raimondo di Sangro, Prinz von Sansevero, im 18. Jahrhundert im Stil seiner Zeit ausgestalten liess. Besonders bestaunt werden die drei handwerklich sehr anspruchsvollen Statuen Cristo velato, Pudicizia und Disinganno – fotografieren verboten, man findet Bilder im Internet. Der bekannte Basler Kunsthistoriker Jacob Burckhardt beschreibt die Kapelle und ihre Skulpturen – eine der unvermeidlichen Sehenswürdigkeiten Neapels – in seinem Kulturführer Cicerone 1855 und kommt zum Schluss: bei all der Illusion ist der geistige Gehalt null.

Am 11. März, einem Freitag, gehen wir zum Bahnhof Porta Nolana und fahren von dort mit der rumpelnden Schmalspurbahn am Vesuv vorbei zu den Ausgrabungen von Pompei. Nur wenige Schritte sind es vom Bahnhof Pompei Scavi Villa dei Misteri zum Eingang der noch menschenleeren Ruinenstadt, die um 9 Uhr ihre Tore öffnet. Die Sonne scheint, die Sicht ist klar, ein kühler Wind weht.

Die Zeit des Römischen Reichs ist eine frühe Zeit der Globalisierung. Von Britannien bis Syrien, von Ungarn bis Portugal verwenden die Menschen die gleichen Technologien, treiben Handel, verständigen sich in einer Sprache. Vielerorts sind Reste dieser Zivilisation erhalten. Nirgends aber kam das Leben so abrupt zum Stillstand wie in Pompei beim Vulkanausbruch des Jahres 79 nach Christus. Selten ermöglichen Ausgrabungen einen besseren Einblick in die damalige Alltagskultur.

Wer sich vorstellt, dass man in Pompei frei durch die Ruinen der Stadt geht, wird enttäuscht. Die meisten Eingänge sind versperrt, und die gefundenen Gegenstände sind weg. Einzelne Eingänge sind offen. Die Strassen sind erhalten, viele Brunnentröge, die Seitenmauern vieler Häuser ebenfalls, einige Wandmalereien sind vor Ort erhalten, Amphoren stehen herum. An der Hauptstrasse befinden sich mehrere römische Tavernen, die auf der Strassenseite street food servierten, wo die Gäste sich aber wohl auch im hinteren Teil um einen rechteckigen Teich setzen konnten, um bei ihrem Mahl der Hitze zu entfliehen. Stilvolle Teiche gab es auch in den Wohnhäusern der Reichen. Einen guten Überblick über die Fundgegenstände erhält man beim Besuch des Antiquarium und der Ausstellung in der Palestra Grande.

Der Besuch von Pompei ist Katastrophentourismus. Als man bei den Ausgrabungen im 19. Jahrhundert in den Ascheschichten Hohlräume mit menschlichen Skeletten entdeckte, begann man damit, diese mit Gips zu füllen. So wurden Figuren im Moment ihres Todes sichtbar. Für immer erstarrte Menschen, die sich ducken und krümmen, andere, die zu fliehen versuchen. Wohl fühlt man sich nicht bei der Betrachtung.

In Pompei hatte man Erfahrung mit Katastrophen, und in einem Relief wird die Wirkung des Erdbebens des Jahres 62 gezeigt.

Neben dem Tod ist auch die Sexualität ein Thema. Ein Publikumsmagnet ist das Lupanare, ein Bordell mit gut erhaltenen Wandmalereien. Auffallend auch die Verbreitung der Priapus-Symbolik. Der erigierte Penis mit den zwei Hoden an Wänden und Hausecken. Lebte hier eine besonders lebensfrohe Bevölkerung ohne Komplexe? Wie glücklich waren die Frauen mit ihren Männern, die Sklavinnen und Sklaven mit ihren Herrinnen und Herren? 

Wir verlassen das Gelände bei der Villa dei Misteri, deren Wandmalereien als Einführung in einen dionysischen Mysterienkult interpretiert werden.

Die Menschen des 18. Jahrhunderts, die die Ruinen von Pompei auszugraben begannen, müssen sich gefragt haben, was die Menschheit seit der Antike an wirklich Neuem hervorgebracht hat. Gewehre, Kanonen und Christentum fallen mir ein.

Den nächsten Morgen beginnen wir in Neapel mit einem Spaziergang zum Dom, der mit seiner neugotischen Fassade nicht den Eindruck einer Sehenswürdigkeit erweckt. Wer sich den Dom genauer ansieht, wird den Weg finden zum Baptisterium, in dem sich Mosaike des späten 4. und frühen 5. Jahrhunderts befinden, zur Kapelle mit dem grandiosen Grabmal des Kardinals Arrigo Minutolo im gotischen Stil des frühen 15. Jahrhunderts, zur Kirche unter dem Chor (succorpo genannt), erbaut 1497-1506 im Stil der Renaissance, und zur barocken Kapelle des Schatzes des Stadtheiligen Gennaro, erbaut 1608-1637, mit einer Malerei von 1643 in der Kuppel , die das Paradies darstellt. Die Reliquie mit dem Blut des Heiligen, das sich jeweils im Mai und im September verflüssigt, ist nur ausgestellt, wenn das Blut fliesst.

Vom Dom aus begeben wir uns zum Kreuzgang des Kloster Santa Chiara. Der 1739 geschaffene Kreuzgang mit Majolika-Bildern des Malers, Bildhauers und Architekten Domenico Antonia Vaccaro blieb während den alliierten Bombardierungen von 1943, die die Kirche Santa Chiara nebenan zerstörten, verschont. Die Bilder auf den Sitzbänken des Kreuzgangs sind nicht religiöser Natur, sondern zeigen fantastische Fuhrwerke, Schiffe, Landschaften mit Burgen und Spaziergängern, Tänzerinnen und viele andere Motive.

Nach einer Mittagspause in einem Restaurant der Piazza Bellini treffen wir alle Mitreisenden wieder beim Eingang zum Archäologischen Nationalmuseum, sozusagen als Fortsetzung des Besuchs von Pompei. Das Gebäude stammt teilweise aus dem 16. Jahrhundert, wurde im 17. und 18. Jahrhundert erweitert und war als Palazzo degli Studi Sitz der Universität. Im Jahr 1816 wurde beschlossen, die Sammlungen aus Pompei und Herculaneum im Real Museo Borbonico zugänglich zu machen, nach der Integration von Neapel ins Königreich Italien 1861 erhielt das Museum seinen heutigen Namen. Im gewaltigen Gebäude befinden sich nicht nur die wichtigsten Funde aus Pompei und anderen Ausgrabungsstätten, sondern im Erdgeschoss auch die bedeutenden antiken Statuen, die die Farnese-Dynastie in ihrem Stadtpalast in Rom seit dem 16. Jahrhundert angesammelt hat.

Etwas enttäuschend ist der Umstand, dass die bekanntesten Kunstwerke aus Pompei 2022 an Ausstellungen in Japan ausgeliehen sind. Schade ist auch, dass man von Covid-bedingten Pfeilen im Treppenhaus nach rechts in den zweiten Stock gelenkt wird und deswegen leicht den Eingang zu den Mosaiken aus Pompei im ersten Stock verpasst, der sich auf der linken Seite des Treppenhauses befindet. Schliesslich werden in den Sälen Teile der Sammlung präsentiert, die mit den temporären Ausstellungen in den gleichen Sälen in keinem thematischen Zusammenhang zu stehen scheinen. Aber in Zukunft wird alles besser. Auf der Website des Museums findet man nicht nur die Pläne zur örtlichen Orientierung, die an der Kasse fehlen, sondern auch allerlei strategische Pläne für die Gegenwart und die Zukunft.

Sonntagmorgen. Um 9 Uhr sind wir unterwegs in einem Zug der Metrolinie 2 nach Caserta.

Vom Bahnhof aus erblickt man hinter einem weiten Platz die eindrückliche Fassade des Königspalasts, der Reggia di Caserta. Der Bau ist zwischen 1752 und 1774 in kurzer Zeit entstanden und ist stilistisch einheitlicher als das vergleichbare Schloss von Versailles. Erbaut wurde die Reggia von Carlo, einem Bourbonen.

Wie kommt ein Bourbone nach Neapel? Die Antwort gibt ein zweiter Blick auf die Geschichte Neapels.

Der Aragonese Ferrante hat zwar einige Gegner aus dem lokalen Adel im August 1486 verhaften und enthaupten lassen, aber andere verbünden sich mit dem Ausland, mit Frankreich und Spanien. Es sind die Spanier, die sich 1504 durchsetzen. Spanien, das Amerika entdeckt und erobert, wird bald die erste Weltmacht, aber die spanischen Könige besuchen Neapel nicht, sie setzen Vizekönige ein, die sich bei ihrer Herrschaft auf den lokalen Adel stützen.

Es ist eng und unhygienisch in der dicht besiedelten Hauptstadt, aber die Privilegierten bauen Barockpaläste. Nur einmal wankt die feudale Herrschaft. Der Fischverkäufer Masaniello übernimmt die Macht während einer Woche im Sommer 1647, als sich das Volk erhebt gegen die Abgaben und Zölle, denen es unterworfen ist, während Adelige und Geistliche von Steuern befreit sind und in ihren luxuriöse Residenzen und prachtvollen Klöstern mit wunderbaren Innenhöfen leben. Dann wird er von den eigenen Leuten umgebracht. Umgebracht werden auch viele Banditen – jedes Jahr werden tausend Banditen erhängt, aber die Kriminalität bleibt hoch. 1656 bricht die Pest aus, die Hälfte der Bevölkerung stirbt.

Bald stirbt auch der letzte Habsburger auf dem spanischen Thron, er hat keine Kinder, in seinem Testament bestimmt er als Nachfolger Philippe von Anjou, Enkel von Louis XIV. Damit nicht einverstanden ist der Kaiser in Wien, die Engländer, die Niederländer, die Portugiesen und die Katalanen. Es folgt der spanische Erbfolgekrieg 1701-1713. Das spanische Weltreich, dem das spanische Lateinamerika, die Philippinen, das Herzogtum Mailand und die spanischen Niederlande (etwa das heutige Belgien) angehören, setzt sich mit seinen Bündnispartnern Frankreich, Bayern und Savoyen durch, verliert aber seine Gebiete in Italien an Österreich. In Madrid wird aus Philippe von Anjou König Felipe V.

Felipe V ist wohl der mächtigste Mann der Welt, aber seine erste Frau, eine Savoyerin, stirbt 25-jährig an Tuberkulose. Die zweite Frau soll helfen, die verlorenen Gebiete in Italien zurückzugewinnen. Elisabetta Farnese ist dafür die Richtige. Sie ist die letzte Vertreterin einer Dynastie, deren Aufstieg zur Zeit der Renaissance mit der Geliebten eines Papstes beginnt. Der Bruder der Geliebten wird bald Kardinal, dann Papst, als solcher vererbt er seinem Sohn ein Stück des Kirchenstaates, nämlich das Herzogtum Parma und Piacenza.

Anders als ihr depressiver Mann Felipe ist Elisabetta entschlossen, ambitiös und gut vernetzt. An allen europäischen Höfen ist bekannt, dass sie für ihr Söhnchen Carlos eine politische Zukunft in Italien fordert.

Nach dem polnischen Thronfolgekrieg, einem Intermezzo von Carlos in Florenz und Parma und dem Sieg der spanischen Armee gegen die Österreicher in Süditalien zieht der 18-jährige Carlo 1734 im Triumph in Neapel ein. Die Neapolitaner haben erstmals seit Jahrhunderten einen König, der in ihrer Stadt wohnt, und hoffen auf bessere Zeiten. Carlo gehorcht aber noch seinem Erzieher und befolgt die elterlichen Befehle, die er aus Madrid erhält. Zu Beginn seiner Herrschaft verbringt Carlo seine Zeit vor allem mit Jagen und Fischen, Tätigkeiten, die vorbeugend wirken gegen die Depressionen, die die Mama von ihrem Mann kennt und bei ihrem Sohn befürchtet. 

Nach seiner Hochzeit emanzipiert sich Carlo schrittweise. Die Ehefrau hat ihm seine Mutter ausgewählt. Es ist Maria Amalia, Tochter des Kurfürsten von Sachsen, der auch noch König von Polen ist. Sie kann gut reiten, begleitet Carlo auf der Jagd, die beiden verstehen sich. Nach der Geburt des ersten Sohnes sitzt sie im Staatsrat, wie es von ihrem Vater im Heiratsvertrag festgelegt worden ist. Die beiden haben dreizehn Kinder, sieben überleben die Kindheit. Für Neapel beginnt ein goldenes Zeitalter.  

Neapel wird eine obligatorische Etappe auf der Grand Tour aller gebildeten Reisenden. Die Antike wird ausgegraben, der Vesuv raucht, angetrieben von vulkanischen Kräften, die es zu erforschen gilt. Und vor dem Ende des Jahrhunderts findet auch der 39-jährige Goethe, der sich in Deutschland oft verliebt hat und eben in Rom während einer Auszeit seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hat, dass Neapel ein Paradies ist.

Es ist bekannt, dass der französische König nicht in der Hauptstadt Paris lebt, sondern mit seinem gesamten Hof in Versailles. Eine britische Flotte bedroht im Jahr 1742 Neapel und den dortigen Königspalast. Gute Gründe für den Plan, ein neues politisches Zentrum zu bauen. Carlo nimmt Kontakt auf mit Architekten und bittet sie um Pläne für einen neuen Königspalast in Caserta im Landesinnern, nahe an den königlichen Jagdgründen und doch auch in der Nähe der Hauptstadt.

Am überzeugendsten ist das Projekt von Luigi Vanvitelli, der bisher für den Kirchenstaat gearbeitet hat. Im Jahr 1751 entscheiden Carlo und Amalia sich dafür. Der Palast soll Platz bieten für den ganzen Hof und den Staatsapparat. 1752 beginnen die Bauarbeiten, die bald 30,000 Menschen beschäftigen. Luigi Vanvitelli ist der Sohn des renommierten holländischen Architekturmalers van Wittel und dessen Frau aus einer italienischen Künstlerfamilie. Vater van Wittel war ein Freund des Stararchitekten Filippo Juvarra, der dem begabten 16-jährigen Luigi geraten hat, nicht Maler zu werden, sondern Architekt.

Der kolossale Königspalast ist ein symmetrisches Rechteck von 247 mal 184 Metern. Durch die vier inneren Flügel des Gebäudes bilden sich vier grosse Innenhöfe. Der Bau hat 1200 Räume und 1700 Fenster, gezählt haben wir sie nicht. Vom Erdgeschoss führt eine repräsentative Treppe mit 116 niederen Stufen aus Carrara-Marmor ins erste Stockwerk, zum piano nobile. Carlo und Maria Amalia haben hier nie gelebt, dafür ihre Nachfolger. Beim Besuch besichtigt man prachtvolle Räume im ersten Stock. Samstags und sonntags öffnen Freiwillige des Touring Club Italien von 10 bis 13 Uhr ausserdem das hufeisenförmige Hoftheater, das sonst nicht besichtigt werden kann. Wir sind nicht die einzigen, die anstehen.

Auf der Rückseite des Palasts befindet sich ein Park mit langgezogenen Wasserbecken, der sich bis zu den steilen Hügeln am Rand der Ebene erstreckt. Am Fuss eines steilen Hangs, unter einem Wasserfall, wurde ein grosser Teich angelegt, in dem überlebensgrosse Statuen die Geschichte von Diana und Aktäon (griechisch Aktaion, italienisch Atteone) darstellen. Eine 38 Kilometer lange Wasserleitung bringt frisches Wasser von den Bergen zum Wasserfall. Dabei wird ein Tal mit einem 60 Meter hohen und über 500 Meter langen Aquädukt überquert.

Mit dem Königspalast und dem Park schaffen Carlo, Maria Amalia und ihr Architekt Vanvitelli ein Werk, das überall in Europa beachtet wird. Die Pläne für den Bau bleiben nicht geheim, sondern werden auf bestes Papier gedruckt und an die Regierenden Europas verschickt.

Weil Carlos älterer Bruder, König Ferdinand VI von Spanien, keine Kinder hat, müssen Carlo und Maria Amalia 1759 Neapel verlassen, aus Carlo wird der spanische König Carlos III. Zurück bleibt Vanvitelli, der mit vielen Hindernissen kämpfen muss, um den Palast fertigzubauen, und der minderjährige Ferdinand, der später eine Tochter von Kaiserin Maria Teresia heiratet, Maria Carolina. Ferdinand und seine energische Gattin sind im Palast von Capodimonte, den wir am nächsten Vormittag besuchen, auf einem grossen Gemälde zusammen mit den Kindern in einer idealisierten Landschaft abgebildet. Das Bild von 1782 hat die bekannte Bündnerin Angelika Kauffmann gemalt.

Carlo hat im Ausgleich mit Österreich auf das Herzogtum Parma verzichten müssen, darf aber die Gemäldesammlung der Farnese aus Parma nach Neapel holen. Diese Sammlung besichtigen wir am Montagmorgen im Museo di Capodimonte. Von der Metrostation Dante erreicht man den Palast von Capodimonte mit seinem Park hoch über der Stadt mit den Buslinien 168, 178 und 3M. Zu sehen sind Gemälde von Simone Martini, Andrea Mantegna, Sandro Botticelli, Raffaelo Sanzio, Parmigianino (Bild), Perugino, Giovanni Bellini, Giorgio Vasari und Tizian sowie eine sehr wertvolle Porzellansammlung. Von 1743 bis 1759 befand sich in Capodimonte die königliche Porzellanmanufaktur, die die besten Spezialisten aus ganz Europa rekrutierte.  

Nach einem Mittagessen auf der Piazza Bellini haben die meisten Mitglieder der Gruppe ihre eigenen Pläne für den letzten Nachmittag in Neapel. Beim Spazieren kommen wir am 1735 errichteten Teatro di San Carlo vorbei und kaufen spontan Karten für eine Führung. Im hufeisenförmigen und damit neuartigen Opernhaus, erbaut für ein 3000-köpfiges Publikum vierzig Jahre vor der Mailänder Scala, wurden neun Opern von Puccini und je siebzehn Opern von Donizetti und Paccini uraufgeführt.

Haben wir Neapel gesehen? Keineswegs. Bei einem früheren Besuch haben uns auch die Barockkirchen Gesù Nuovo und die Klosterkirche San Gregorio Armeno mit seinem Kreuzgang imponiert, die nach dem Bombenangriff von 1943 im ursprünglich gotischen Stil wiederaufgebaute Kirche Santa Chiara mit dem Grabmal von Robert von Anjou, die Kirchen San Domenico maggiore und San Lorenzo Maggiore. Etwas überbewertet fanden wir das Gemälde Le opere di misericordia (1606-07) von Caravaggio im Pio Monte della Misericordia.

Wir nehmen uns vor, wieder zu kommen. Zu sehen gibt es weitere Kirchen, zum Beispiel die Kirchen Monteoliveto, San Giacomo degli Spagnoli, Santa Maria del Carmine mit dem Grabmal von Corradino, den kirchlichen Komplex der Girolamini mit der barocken Bibliothek, die Katakomben von San Gennaro und die Unterwelt Napoli Sotterranea, den Parco virgiliano mit dem angeblichen Grab von Vergil, das Castel dell’Ovo am Meer und das Castel Sant’Elmo oberhalb des Klosters San Martino, den Königspalast Palazzo Reale, die verschiedenen Stadtpaläste der adeligen Oberschicht, die alten Sozialinstitutionen Ospedale degli Incurabili und Albergo dei Poveri, für Regenzeiten gibt es ein Dutzend Museen. Ausserhalb von Neapel möchten wir auch den Vorort Pozzuoli und die Solfatara in den Phlegräischen Feldern besuchen, den Ort Cuma, den Vesuv, die Ausgrabungen von Ercolano (Herculaneum), die Tempel von Paestum, Casertavecchia, Santa Maria Capua Vetere. Schliesslich wären da die Maradona-Pilgerstätten und die Orte, die aus Elena Ferrantes L’amica geniale bekannt sind, und natürlich Vorstellungen im Opernhaus, Konzerte. Vielleicht lohnt sich auch die Beschäftigung mit Intellektuellen, die in Neapel gelebt haben, Giambattista Vico, Benedetto Croce… Und noch etwas: man kann in Neapel einfach auf der Strasse herumstehen und den Menschen zusehen. Langweilig wird es dabei kaum.

Haben wir Neapel verstanden? Nein. Vieles bleibt vorerst rätselhaft. Ein Beispiel: Italien entschied sich 1946 in einer Volksabstimmung für die Republik und gegen die Monarchie. In Neapel waren vier Fünftel für die Monarchie.

Welche Restaurants können wir in Neapel empfehlen? Zwischen Piazza del Municipio und den Quartieri spagnoli hat Dal Soldino gefallen, auf der Piazza Bellini die Osteria A’ casa ra’ signora mit sehr feinen Saucen und ganz in der Nähe das vegetarische Sorriso integrale, im vergangenen November allerdings besser als jetzt im März. Auf der Piazza Garibaldi amüsieren wir uns bei bester Stimmung in der Cantina dei Mille (Garibaldi ist seinerzeit mit tausend Kämpfern in Sizilien gelandet, daher der Name). Wer gerne standesgemäss Kaffee trinkt oder das Gebäck Sfogliatella versuchen will, sollte am Gambrinus nicht vorbeigehen.

Am 15. März morgens um 9 Uhr sitzen wir im Zug vom Bahnhof Porta Nolana nach Sorrento. Dort steigen wir um auf einen Bus der Gesellschaft SITA, der sich auf engen Strassen in die Höhe schraubt, so dass wir den Golf von Neapel überblicken, und der dann auf noch engeren Strassen weiterfährt auf der nach Süden offenen Steilküste nach Positano und weiter nach Amalfi.

Die Strasse führt über beängstigende Klippen, die senkrecht zum Meer abstürzen, und durch kompakte Siedlungen, die weiss getüncht und grell leuchtend an den Felsen kleben. In Amalfi steigen wir vor der Endstation aus, genau vor dem Hotel Bellevue, wo wir unsere Zimmer für zwei Nächte reserviert haben.

Zum Mittagessen gehen wir in einer guten Viertelstunde ins Stadtzentrum von Amalfi. Leider ist der Kreuzgang Chiostro del Paradiso geschlossen bis 1. April, obwohl wir nicht die ersten Touristen in der mondänen Kleinstadt sind, deren Seefahrer sich früh im Gebrauch des Kompasses auskannten und durch den Handel im Mittelmeerraum zu Reichtum gelangten. Im eng überbauten Zentrum der Stadt lohnt sich ein Spaziergang auf den Fusswegen, die oft tunnelartig unter den Altstadthäusern durchführen. Abends verabschieden wir eine Mitreisende, die schon am nächsten Morgen zurück in die Schweiz fährt, im Restaurant Lo Smeraldino neben dem Hafen.

Für den 16. März haben wir uns eine kulturelle Bergwanderung vorgenommen. Auf Treppenstufen geht es vom Zentrum von Amalfi steil nach oben zum alten Fussweg, der bald genau so steil in die Nachbarstadt Atrani hinunterführt, im 11. Jahrhundert eine Schwesterrepublik von Amalfi – die Bronzetüre der Kirche wurde wie die Türe des Amalfitaner Doms in Konstantinopel gegossen. In Amalfi ist auch ein Teil des ursprünglichen Sandstrands erhalten, man kann sich hier die Hände oder die Füsse mit Meerwasser benetzen oder im Sommer baden. Inzwischen brennt die Sonne, und von Atrani führt der Weg noch ein bisschen steiler nach oben, teilweise auf einer langen Treppe mit beachtlichen Stufen, durch Gärten mit Oliven- und Zitronenbäumen. Das Meer glänzt weit unten, und oben ist der Felsen zu erkennen mit den Statuen der Terrazza dell’ infinito der Villa Cimbrone – den Ort mit bester Aussicht haben wir im November besichtigt, im März ist er leider geschlossen. Schwitzend erreichen wir den Ort Ravello. Zwei Mitglieder der Gruppe haben den Ort per Bus erreicht.

Bevor der Dom für die späte und lange Mittagspause des Südens schliesst, wollen wir uns sein Inneres ansehen. Auch hier eine Bronzetüre, nur im Innern sichtbar, aus dem Jahr 1179. Rechts im Kirchenschiff steht ein mit Mosaiken verzierter Ambo aus Marmor, ein Rednerpult auf gedrehten Säulen aus dem Jahr 1272, der Einfluss des Orients ist unbestritten. Ein zweiter Ambo aus dem Jahr 1330 befindet sich ihm gegenüber links im Kirchenschiff, an seiner Seitenwand stellen Mosaiken die Geschichte von Jonas dar.

Nach dem Aufstieg und der Besichtigung haben wir uns ein Mittagessen an der Sonne auf dem Domplatz und einen Kaffee verdient.

Zum Abschluss unseres Aufenthalts in Ravello betreten wir die Villa Rufolo, die Villa des reichen Händlers Leonardo Rufolo, über den Boccaccio in seinem Decamerone eine Geschichte erzählt. Die Villa spielte auch eine Rolle im Werk von Richard Wagner, dessen Arbeit an seiner letzten Oper Parsifal stockte, bis er im Mai 1880 hier den Zaubergarten fand, der ihn zu seiner Musik inspirierte. (Mehr zu Wagner in unserem Bericht über den Ausflug nach Luzern am 12. Juni 2021.)

Mit dem Bus fahren wir die Bergstrasse hinunter nach Amalfi. Das Abendessen vor unserer Rückreise essen wir in der Taverna di Masaniello. Der aufständische Neapolitaner von 1647, nach dem sich das Restaurant benennt, stammte aus einer Amalfitaner Familie. In der Küche lässt man sich von den Früchten der Umgebung für Teigtaschen mit einer Füllung aus Zitronen und Ricotta inspirieren.

Nach dem schmackhaften Frühstück im Hotel am nächsten Morgen steigen wir in den Bus von Amalfi nach Salerno und dort in den Hochgeschwindigkeitszug Frecciarossa, der mit nur geringer Verspätung in Mailand ankommt, so dass alle ihre Anschlusszüge in die Schweiz erwischen.

Im Zug zwischen Rom und Mailand kommen wir mit einem jungen Mann ins Gespräch, der an der EPLF Lausanne forscht und dessen Familie aus verschiedenen Teilen Italiens stammt. Er wundert sich über Mitteleuropäer, die Neapel nicht kennen, aber genau wissen, warum sie nie im Leben dorthin reisen würden.