Zweimal mussten wir die Reise von Augsburg nach Trient wegen der Pandemie verschieben. Nun endlich konnte die Überquerung der Alpen ausserhalb des gewohnten schweizerischen Kontexts stattfinden, mit zehn interessierten und sympathischen Zeitgenossinnen und Miteidgenossen.
Warum Augsburg als Ausgangspunkt, warum Trient als Ziel? Die Distanz zwischen den beiden Städten beträgt etwa 400 Kilometer. Das entspricht ungefähr der Distanz von Freiburg im Breisgau nach Mailand.
Die Städte Augsburg und Trient liegen an der Römerstrasse Via Claudia Augusta. Die Augsburger Brunnen und das mächtige Rathaus sind beeinflusst von der italienischen Renaissance. In Trient stammen die berühmten Malereien der Torre Aquila im Schloss Buonconsiglio von einem Maler der Alpennordseite.
In der Reichsstadt Augsburg hielt sich der König und spätere Kaiser Maximilian I oft auf, hier nahm er an den Reichstagen von 1500, 1503, 1510, 1517 und 1518 teil. In Trient liess er sich 1508 vom Papst zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs krönen, und bis heute sieht man an mehreren Fassaden sein Abbild. Unterwegs zwischen Augsburg und Trient, in der Innsbrucker Hofkirche, steht Maximilians grossartiges Grabmal.
Norden und Süden scheinen durch die Alpen getrennt, sie sind aber doch seit Jahrtausenden miteinander verbunden.
Unsere Reise beginnt am Samstag, den 9. Juli im EuroCity 99 von Zürich nach München. Im Städtchen Buchloe steigen wir aus. Die Schwaben, die in diesem Teil Bayerns wohnen, nennen den Ort ˈbuəxlə, das sieht in phonetischer Schrift etwas exotisch aus, tönt aber vertrauter.
Mit einem Regionalzug erreichen wir zur Mittagszeit die Stadt Augsburg, die grösste Stadt auf unserer Reiseroute. Wir beziehen unsere Hotelzimmer in der Nähe des Bahnhofs und gehen durch die belebte Innenstadt zum Platz vor dem Rathaus. Der Giebel des riesigen Gebäudes ist geschmückt mit einem grossen Reichsadler, darüber ragt das Symbol der Stadt in die Höhe, die Zirbelnuss, der Zapfen einer Zirbelkiefer, oder etwas vereinfacht gesagt: ein aufrechtstehender Pinienzapfen. Am Rand des Platzes essen wir Snacks und trinken Kaffee.
Die eigentliche Besichtigung der Stadt beginnen wir in der Sankt Anna-Kirche. Sie ist ursprünglich die Kirche der Karmelitermönche. In der anfänglich schmucklosen Kirche des Bettelordens baute der reichste Mann der Welt für sich im Stil der frühen Renaissance eine Kapelle, unter der er bis heute begraben ist. Im ruhigen Hof hinter der mittelalterlichen Goldschmiedekapelle geben wir einen Überblick über die Geschichte Augsburgs von der Römerzeit, als die Stadt Augusta Vindelicum Hauptstadt der Provinz Raetia war, über das schicksalshafte Jahr 955, als Otto, Gemahl der im Waadtland geborenen Adelheid, die ungarischen Invasoren entscheidend schlug in der Schlacht auf dem Lechfeld, bis zu den Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs.
Der reichste Mann der Welt oder zumindest Europas, das war der Augsburger Jakob Fugger, genannt der Reiche (1459-1525). Seine Vorfahren waren als Textilunternehmer schon einigermassen reich geworden – in Augsburg stellte man mit Leinen und importierter Baumwolle Tücher aus Barchent her. Den jungen Jakob schickten die Eltern früh nach Venedig, damit er den Handel, den Umgang mit Geld und Gold und die doppelte Buchhaltung erlerne. Der Habsburger Kaiser Maximilian I (1459-1519) hielt sich oft als Gast bei Fugger in Augsburg auf, und wenn er Geld brauchte, dann erhielt er es von Jakob Fugger. Im Gegenzug sicherte sich Fugger Bergbaukonzessionen in den habsburgischen Erblanden und im Reich. Auf den bemalten Flügeltüren aus dem beginnenden 16. Jahrhundert, mit denen die Orgel abgeschlossen werden kann, sind sowohl Fugger als auch Maximilian als Zuschauer himmlischer Ereignisse abgebildet.
Speziell an der Kirche ist der Umstand, dass Fugger Katholik blieb und die Lutherei ablehnte, die St. Anna-Kirche aber bald reformiert wurde, nachdem Luther sich als Augustinermönch 1518 im Karmeliterkloster aufhalten hatte. Der päpstliche Abgesandte Thomas Cajetan (Tommaso de Vio Caetano, lateinisch Gaetanus, also aus Gaeta, von Beruf Philosoph, Theologe, Kardinal) hatte den Mönch nach Augsburg zitiert, wo gerade ein Reichstag stattfand, damit er zumindest einige seiner 95 Thesen, mit denen er am Vorjahr etwas Aufruhr in kirchlichen Kreisen erregt hatte, widerrufe. Die beiden konnten sich nicht einigen. Luther rechnete mit seiner Verhaftung und verliess die Stadt nachts und heimlich. Luthers Porträt aus der Werkstadt von Lukas Cranach hängt in der Kirche und erinnert an den Reformator. Eine kleine Ausstellung thematisiert den Beginn der Reformation in der Lutherstiege, die man vom Kreuzgang aus erreicht.
Nach der Unruhe, die die Reformation über die Stadt und das Reich gebracht hatte, wurde 1555 der Augsburger Religions- und Reichsfrieden verkündet, wegen dem sich Augsburg gerne als Friedensstadt präsentiert. Sehr lange dauerte der Frieden nicht.
Nach dem Besuch der St. Anna-Kirche wollen wir das 1615 bis 1620 im Stil der italienischen Renaissance erbaute Rathaus kennenlernen. Der Bau war bis 1917 das höchste Gebäude Deutschlands – wenn wir Kirchtürme nicht berücksichtigen. Grund für den Bau war das Ziel, mit dem Kongresszentrum den Reichstag wieder vermehrt nach Augsburg zu locken, der zwischen 1500 und 1555 zehnmal in Augsburg tagte, aber nur noch zweimal in den Jahren bis 1600. Dieses Ziel hat der Bau verfehlt, weil Regensburg 1594 zum einzigen Versammlungsort des Reichstags bestimmt worden war. Nur 1713 und 1714 fand der Reichstag noch einmal in Augsburg statt, wegen einer Pestepidemie in Regensburg.
Im Inneren trumpft das Rathaus auf mit Büsten römischer Kaiser und mit dem Goldenen Saal von gewaltigen Dimensionen (32,65 x 17,35 m, Höhe 14,22 m).
Der Saal und das Rathaus überhaupt wurden leider im Februar 1944 durch Bombardierungen bis auf die Aussenmauern zerstört, übrig blieb auch der Rathauskeller. Nach dem Krieg wurde das Rathaus wieder aufgebaut, verwendet wird es bis heute als Rathaus. Die möglichst originalgetreu wiederhergestellten Malereien verherrlichen die weise Herrschaft der Habsburger, vor allem des Kaisers Ferdinand II (Kaiser 1619-1639). Wenig segensreich wirkten sich die religionspolitischen Bestrebungen Ferdinands auf den Baumeister des Rathauses aus: Stadtbaumeister Elias Holl verlor sein Amt 1629, weil er Protestant bleiben wollte.
Auf dem geräumigen Platz vor dem Rathaus steht eine weitere Sehenswürdigkeit Augsburgs, der Augustusbrunnen, erbaut 1589 bis 1594. Oben auf dem Brunnen steht Kaiser Augustus mit ausgestrecktem Arm. Aus den Brüsten von vier weiblichen Hermen spritzt Wasser. Zwei weibliche und zwei männliche Wassergottheiten auf dem Beckenrand symbolisieren vier Flüsse und Bäche (im Bild der Lech – dem Fluss begegnen wir später auf der Reise wieder). Der Brunnen ist das Werk des in den Niederlanden geborenen Hubert Gerhard, der mit Giovanni da Bologna oder Giambologna, eigentlich Jean de Boulogne, gearbeitet hatte, der mit dem Neptunbrunnen in Bologna 1553 bis 1556 einen ähnlichen Brunnen geschaffen hatte.
Zusammen mit zwei weiteren Monumentalbrunnen in der Oberstadt (Merkurbrunnen, Herkulesbrunnen) und allerlei technischen Werken ist das Wassermanagement-System von Augsburg UNESCO-Weltkulturerbe. Einen Brunnen mit fliessendem Trinkwasser haben wir in der sommerlichen Innenstadt aber leider nicht gefunden. Dafür gibt’s Bier im Damenhof, einem nach dem Krieg wiederaufgebauten Renaissance-Innenhof in einem der wiederaufgebauten Fuggerhäuser an der zentralen Maximilianstrasse.
Am Sonntagmorgen schlendern wir durch leere Strassen und durch die Gässchen des von Kanälen durchzogenen Lechviertels zur ältesten Sozialsiedlung der Welt, zur Fuggerei, die bis heute von der Fürstlich und Gräflich Fuggerschen Stiftungs-Administration verwaltet wird. Als Jakob Fugger 1525 starb, standen schon 52 der gegenwärtig 67 Häuser mit 140 Wohnungen. Die Siedlung ist nicht für arbeitsscheue Taugenichtse, sondern für unverschuldet bedürftige katholische Augsburgerinnen und Augsburger, die als Gegenleistung eine Jahreskaltmiete von 0,88 EUR bezahlen und sich zum Beten von drei täglichen Gebeten verpflichten: ein Vaterunser, ein Ave Maria, ein Credo. In der Fuggerei gibt es vier kleine Museen, ein Museum der Geschichte und des Wohnens, ein Museum der Bewohner, ein Museum des Alltags und ein Museum im Bunker, das den Folgen des Krieges gewidmet ist.
Nach der Fuggerei sind wir reif für einen Besuch im nahegelegenen Geburtshaus von Bertolt Brecht (1898-1956). Die Biographin Marianne Kesting schreibt zu seiner Herkunft: Brechts Jugendzeit in Augsburg steht im Zeichen eines bedeutungsvollen Widerspruchs. Der konsequenteste Kritiker der Bourgeoisie unter den deutschen Dichtern stammt nicht nur aus einem wohlsituierten Elternhaus, er wuchs auch in einer Stadt auf, die von alters her geradezu als ein Zentrum bürgerlichen Selbstbewusstseins und biederen Gewerbefleisses gelten kann. Auch wenn Brecht vor allem durch seine Theaterarbeit in Berlin bekannt wird, widmet er doch eine frühe Sammlung von Gedichten, die Hauspostille, drei Augsburger Freunden.
Nach dem Brechthaus begeben wir uns zum Platz neben dem Dom, wo Funde aus der römischen Zeit ausgestellt sind, darunter das spätere Symbol der Stadt, die Zirbelnuss, bedeutend für den Kult der phrygischen Göttin Cybele, für den es Eunuchen braucht, und der auf einem Mythos beruht, der mit Kastrationen nicht gerade sparsam umgeht.
Im geräumigen Hohen Dom entdecken wir die Gemälde von Hans Holbein dem Älteren, dem Vater des Malers Hans Holbein, der vor allem in Basel und England bekannt wurde. Nach einem Mittagessen besucht ein Teil unserer Gruppe auf eigene Faust das Textil- und Industriemuseum Augsburg, das in einer ehemaligen Kammgarn-Spinnerei untergebracht ist, und ist begeistert.
Mit dem Rest der Gruppe besuchen wir das von Bomben glücklicherweise verschonte Schaezler-Palais mit seiner Gemäldesammlung und seinem barocken Ballsaal, dessen Deckengemälde mit Merkur im Zentrum den durch den Handel erwirtschafteten Reichtum und die Überlegenheit Europas über den Rest der Welt feiert. Anschliessend begeben wir uns zur Kirche Sankt Ulrich und Afra, wo gerade mit einem Festgottesdienst die Ulrichswoche zu Ende geht. Während einer Woche im Jahr wird der Schrein mit den Gebeinen des Stadtheiligen am Rand des Chors ausgestellt.
Das gemeinsame Abendessen, das wir eigentlich für den Samstagabend geplant hatten, haben wir aus praktischen Gründen auf den Sonntagabend verschoben. Wir speisen im Ratskeller, wo es traditionelle deutsche Speisen und gutes Bier gibt.
Am Montagmorgen sind wir früh unterwegs und fahren mit einem Dieseltriebwagen der Bayerischen Regiobahn BRB nach Füssen. Anfangs fährt der Zug in hohem Tempo durch grosszügig angelegte und flache Felder. Weit in der Ferne sind die ersten Erhebungen der Alpen unter einem wolkenlosen Himmel zu sehen. Der Zug fährt wieder durch Buchloe und weiter durch Kaufbeuren nach Süden in eine voralpine Hügellandschaft. Die Strecke wird kurvig, man sieht vermehrt sattgrüne Weiden mit Kühen statt Getreidefelder. Wir sind im Allgäu.
In der Kleinstadt Füssen, Etappenort der Via Claudia Augusta, endet die zweistündige Fahrt in einem Sackbahnhof. Wir gehen in wenigen Minuten zu unserem Hotel, deponieren das Gepäck und betreten die kompakte Innenstadt.
Nach einem leichten Mittagessen in einem Strassencafé besichtigten wir die Klosterkirche St. Mang aus dem 18. Jahrhundert. Die Fresken in der Kirche sind inspiriert von der Lebensbeschreibung des Heiligen Magnus, der im 8. Jahrhundert gelebt haben soll und der auf den Bildern allerlei drolligen Monstern entgegentritt.
Von Füssen aus haben die meisten Mitreisenden am Nachmittag sowohl die Wieskirche (UNESCO-Weltkulturgut) als auch den Touristenmagnet Neuschwanstein besucht.
Die beiden Sehenswürdigkeiten kann man an einem Nachmittag besichtigen unter der Bedingung, dass man mit dem Bus um 14 Uhr zur idyllischen Wieskirche fährt, von dort nach einer knappen Stunde zurückfährt bis zur Haltestelle Hohenschwangau Castles und im Schloss Neuschwanstein die letzte Führung des Tages gebucht hat. Die von 1749 und 1754 erbaute Wallfahrtskirche wurde erbaut, nachdem eine vergessene Holzstatue des gegeisselten Heilands 1746 zu weinen begonnen hatte. Sie gilt als eine typische Kirche des Rokoko-Stils. Das Deckengemälde zeigt Christus, als Zeichen der Versöhnung auf einem Regenbogen sitzend. Gleichzeitig künden Engel an, dass er nächstens auf dem noch leeren Thron Platz nehmen wird, der für das Jüngste Gericht bereitsteht – der Retter der Menschheit droht also gleichzeitig mit der ewigen Verdammnis, wenn wir Menschen nicht spuren – so zumindest meine Befürchtung. Alle Darstellungen in der Kirche haben jedenfalls ihre theologische Bedeutung.
Neuschwanstein wird jedes Jahr von bis zu eineinhalb Millionen Touristinnen und Touristen besucht, im Sommer sind es über 6000 pro Tag.
Der bairische König Ludwig II, der ohne Familie, nur mit Bediensteten im noch unfertigen Schloss lebte, wurde hier am 11. Juni 1886 gegen Mitternacht abgeholt, nachdem eine ärztliche Kommission ihn drei Tage vorher aufgrund des Studiums von Akten als seelengestört und unheilbar erklärt und entmündigt hatte. Weniger als 24 Stunden später starben Ludwig II und der Psychiater von Gudden unter ungeklärten Umständen im Starnberger See.
Anders als beispielsweise in Versailles oder im Schloss Schönbrunn ist die Anziehung von Neuschwanstein, in der Tourismuswerbung Burg des Märchenkönigs, nicht ansatzweise mit dem Stellenwert des dort wohnenden Herrschers zu erklären. Der schwer übergewichtige Mann mit aufgedunsenem Gesicht war bei seinem Tod mit 41 Jahren weder ein Märchenkönig noch ein wichtiger Akteur in der deutschen Politik. Der Grund für die Anziehung liegt doch eher darin, dass Neuschwanstein als Vorbild für die Schlosskonstruktionen in den Freizeitparks des Walt Disney-Imperiums gilt.
Ludwig II liess sich bei seinem teuren Bauvorhaben inspirieren von Bühnenbildern zu Wagner-Opern, von der Wartburg bei Eisenach, die Ludwig II eigens besuchte, und von verschiedenen mittelalterlichen Darstellungen.
Für den Aufstieg vom Bus zum Schloss sollte man eine gute halbe Stunde reservieren. Vor dem Schloss (nebenan ein Bild vom Monat Mai nach einem Regenguss) gibt es Schliessfächer für Taschen und Rücksäcke, gratis zu benützende Toiletten und eine Aussichtsplattform, von der aus man das Schloss fotografieren kann.
Die Führungen dauern nur etwa 25 Minuten. Man wird sehr rasch durchgeschleust, fotografieren ist im Innern nicht gestattet. Trotzdem lohnt sich ein Besuch. Bei verschiedenen Führungen wird man auch auf unterschiedliche Details aufmerksam gemacht. Wer die Wagner-Opern kennt, die Ludwig II faszinierten, hat gewiss mehr vom Besuch. Man sollte mit Tannhäuser vertraut sein, mit der Artussage, dem Nibelungenlied, der Parzival-Sage, der Erzählung von Tristan und Isolde, mit der Geschichte von Lohengrin, in der ein Schwan eine wichtige Rolle spielt. Die verschiedentlich auftauchenden Schwäne auf Neuschwanstein sind voller Bedeutung, sind nicht blosse Anspielung auf den Ortsnamen.
Es lohnt sich auch, in Hohenschwangau die Busfahrpläne anzusehen. Unsere Reisegruppe hat es jedenfalls klug vermieden, sich bei der Rückfahrt nach Füssen in einen überfüllten Bus zu quetschen.
In Füssen können wir für ein leichtes Abendessen die Schiffwirtschaft mit biologischen Spezialitäten und freundlicher Bedienung auf der anderen Seite des beachtlichen Alpenflusses Lech weiterempfehlen.
Am Dienstagmorgen fahren wir mit dem Bus über die Grenze nach Reutte in Tirol – die Tickets kauft man beim Fahrer. Von dort sollte ein Zug der Ausserfernbahn nach Garmisch-Partenkirchen fahren, wo man umsteigen und weiterfahren kann mit der Mittenwaldbahn oder Karwendelbahn bis Innsbruck. Beide Bahnstrecken sind anfangs des 20. Jahrhunderts gebaut worden, sie wurden von Anfang an elektrisch betrieben und führen bergauf und bergab mit bedeutenden Steigungen durch sehenswerte alpine Landschaften.
Bis Garmisch fahren wir dann aber mit einem Bus, die Bahnstrecke wird repariert. Von Garmisch nach Mittenwald fährt bei unserem Besuch ebenfalls nur ein Ersatzbus. Die Verantwortlichen der Bahn haben die Strecke von Garmisch nach Süden gesperrt nach einem tödlichen Unfall nördlich von Garmisch. Die unfreiwillige Pause in Mittenwald verwenden wir für ein leichtes Mittagessen und für die Lektüre der Reisenotizen von Montesquieu (1689-1755), der im August 1729 von Süden her durch das Tirol gereist ist und in Mittenwald so fror, dass er heizen musste: Je regarde le Tyrol comme les Alpes qui séparent l’Allemagne et l’Italie. Généralement, ce que j’en ai vu est mauvais. Ce sont des montagnes, la plupart du temps couvertes de neiges et la plupart du temps très stériles.
Endlich fährt der Zug von Mittenwald ab, in Tunnels durchquert er die Martinswand nördlich von Innsbruck, in der Kaiser Maximilian sich bei der Jagd einst verstieg – ein beliebtes Bildsujet – und aus der er gerettet werden musste.
In Innsbruck beziehen wir unsere Hotelzimmer nicht weit von der zentralen Maria-Theresien-Strasse mit der oft abgebildeten Annasäule, die an einen Sieg der Tiroler gegen die Bayern 1703 während dem Spanischen Erbfolgekrieg erinnert. Dann besichtigen wir die auffallendste Sehenswürdigkeit der Stadt, das Goldene Dachl, das von weitem hell glänzt.
Unter dem vergoldeten Dach befindet sich ein Balkon, dessen Seiten mit Reliefs geschmückt sind. Eines der Reliefs zeigt Kaiser Maximilian mit seinen Gemahlinnen Maria von Burgund (1457-1482 – die sportliche Frau starb nach einem Reitunfall) und Bianca Maria Sforza (1472-1510). Eine Ausstellung zeigt weitere Originalreliefs, teilweise mit Narren und Moriskentänzern, die beeindruckende Verrenkungen zeigen, und stellt den Renaissance-Kaiser vor, der oft auch als der letzte Ritter bezeichnet wird, weil er gerne Turniere organisierte und jagte, der sich aber auch schriftstellerisch betätigte und überhaupt alles tat, um nach seinem Tod nicht in Vergessenheit zu geraten.
Sein wichtigstes Werk war rückblickend wohl die habsburgisch-spanische Doppelhochzeit, in der er seinen Sohn und seine Tochter mit dem spanischen Königshaus vermählte, was zusammen mit unerwarteten Todesfällen dazu führte, dass die Dynastie der Habsburger im 16. Jahrhundert die Kontrolle über das spanische Weltreich übernehmen konnte.
Da am Abend alle Mitreisenden zusammen essen gehen möchten, reservieren wir Platz im Restaurant Weisses Rössl in der Altstadt – die etwas versteckte Terrasse, die auch bei den Einheimischen beliebt ist, ist zwar besetzt, aber das Essen können wir empfehlen.
Den nächsten Morgen beginnen wir mit einem Besuch der Hofkirche, in der sich Maximilian mit einem Grabmal verewigt hat, das von 28 Bronzestatuen umgeben ist, welche (mit einer Ausnahme) zwischen 1511 und 1530 gegossen wurden und Vorfahren, Verwandte und Vorbilder des Kaisers darstellen. Die überlebensgrossen Statuen sind in einer Reihenfolge aufgestellt, die mir zufällig erscheint und jedenfalls nicht chronologisch ist. Ein Faltblatt gibt Auskunft darüber, in welchem Verhältnis die dargestellten Personen zu Maximilian und zu anderen Personen im Raum stehen.
Einige Personen spielen auch eine Rolle in der Geschichte der Schweiz, zum Beispiel
- der Ostgotenkönig Theoderich der Grosse (Lebensdaten um 451 oder 456 bis 526), der seine Tochter nach einem Friedensschluss mit dem späteren König Sigismund von Burgund verheiratete, der im Jahr 515 das Kloster Saint-Maurice gründete, aus Reue darüber, dass er, angestiftet durch seine zweite Frau, seinen Sohn mit der Ostgotin hatte erdrosseln lassen (vermutlich verkörpert Theoderich hier den Herrschaftsanspruch Maximilians über Italien),
- Graf Albrecht IV von Habsburg (1188-1239), ein Habsburger aus dem Aargau, der während einem Kreuzzug in Palästina (in Askalon, heute Israel) starb, und sein Sohn
- König Rudolf I von Habsburg (1218-1291), der die vom Vater geerbten Güter im Aargau, im Frickgau, im nördlichen Zürichgau und im Elsass als Graf übernahm, als sein Vater sich auf den Kreuzzug begab, und der als Kompromisskandidat nach dem Interregnum als erster deutsch-römischer König aus der Dynastie der Habsburger gewählt wurde – er war bei der Wahl ein simpler Graf, nicht einmal Herzog; weiter sein Sohn
- König Albrecht I (1255-1308), der von seinem Neffen in Königsfelden bei Brugg ermordet wurde, und seine Frau
- Elisabeth von Görz-Tirol (1262-1313), die mit ihrer früh verwitweten Tochter Agnes von Ungarn zu Ehren des Ermordeten die Klosterkirche Königsfelden mit ihren bemerkenswerten und bis heute erhaltenen mittelalterlichen Glasfenstern bauen liess,
- Herzog Albrecht II (1298-1358), geboren auf der Habsburg,
- Herzog Leopold III (1351-1386), der mit 35 Jahren in der Schlacht von Sempach umkam,
- Herzog Friedrich IV (1382-1439), der sich mit seiner unklugen Unterstützung eines Gegenpapstes mit Kaiser Sigismund überwarf, was die Berner dazu ermunterte, 1415 den vorher habsburgischen Aargau zu erobern (andere Eidgenossen schlossen sich an, so wurde die Stadt Baden eine gemeine Herrschaft);
- Karl der Kühne von Burgund (1433-1477), Gegner der Eidgenossen 1476 bei Grandson und bei Murten und 1477 bei Nancy, und seine Tochter
- Maria von Burgund (1457-1482), erste und geliebte Ehefrau von Maximilian, die mit ihrer Heirat zunächst verhindern konnte, dass die burgundischen Gebiete, die viel bedeutender waren als die gegenwärtige Region Burgund, zum Königreich Frankreich kamen (den siegreichen Eidgenossen zahlte der französische König Ludwig XI 150,000 Gulden, damit sie ihre Ansprüche auf die Franche-Comté aufgaben – aber definitiv erobert hat Frankreich die Franche-Comté erst zweihundert Jahre später, 1673 und 1674),
- Margarethe von Österreich (1480-1530), die 1501 in zweiter Ehe in der Kirche von Romainmôtier Philibert le Bel von Savoyen heiratete,
- Bianca Maria Sforza (1572-1510), die in der Familie ihres Onkels Ludovico Sforza il Moro aufwuchs, der 1500 in einer Episode, die als Verrat von Novara bekannt ist, von einem Schweizer Söldner an die Franzosen verraten wurde.
Und natürlich ist Maximilian dargestellt, nicht aufrecht oder auf einem Thron, sondern auf den Knien als betender Christ.
Auch bei Maximilian gibt es Bezüge zur Schweiz. Als Erzherzog von Österreich hat er erfolglos Krieg gegen die Bündner und die Eidgenossen geführt. 1499 siegten die Bündner an der Calven im Münstertal – ein Denkmal in Chur erinnert bis heute an den Anführer Benedikt Fontana, der in der Schlacht fiel. Im gleichen Jahr fand die Schlacht bei Dornach statt. Dort sind neben dem ehemaligen Kloster hinter einer Glasscheibe eingeschlagene Schädel als Erinnerung an den Schwabenkrieg öffentlich ausgestellt. Weitere Schädel böser Schwaben können im Zeughaus Solothurn besichtigt werden.
Unter den Statuen sind alle Vorfahren Maximilians in der männlichen Linie seit dem 12. Jahrhundert, von Graf Albrecht IV bis zu Maximilians Vater Kaiser Friedrich III. Abgebildet ist auch sein früh verstorbener Sohn Philipp (1478-1506), nicht jedoch sein Enkel Karl V (1500-1558), der noch lebte, als die letzte Statue gegossen wurde, und der – dank Jakob Fuggers Handsalben – ein Reich übernehmen und weiter vergrössern konnte, das von Ungarn bis Lateinamerika und von Friesland bis Tripoli reichte. Auch Maximilians Mutter Eleonore von Portugal fehlt in der Runde.
Gemäss Maximilians Testament sollten die Statuen in der Kapelle seiner Burg in Wiener Neustadt aufgestellt werden, wo sich auch bis heute die Überreste des Kaisers befinden. Die Statuen wären aber zu schwer gewesen für die Kapelle, die sich nicht im Erdgeschoss befindet. Im 16. Jahrhundert bauten die Nachfahren Maximilians deshalb die Hofkirche mit dem angrenzendem Franziskanerkloster, in dem heute das Tiroler Volkskunstmuseum untergebracht ist. Ein Besuch dort lohnt sich ebenfalls. Mir fällt auf, wie sehr sich die Kunst des alpinen Volkes von der Ästhetik des europäischen Adels unterscheidet.
Wir haben auch die Hofburg Innsbruck besichtigt, die von der Burghauptmannschaft Österreich verwaltet wird. Es sind kaiserliche Appartements zu sehen, die meist leer standen, weil die Herrschenden sich nicht oft in Innsbruck aufhielten. Das Sterbezimmer von Maria Theresias Gatten wurde in eine Kapelle umgebaut. Sehenswert ist der Riesen-Saal, sehr gross, es gab dort früher Darstellungen von Riesen. Fotografieren ist in der Hofburg verboten, aufmerksame Aufseher registrieren verdächtige Bewegungen. Aber der Rüssel eines Elefanten als Trompete, das Detail möchte ich den Leserinnen und Lesern dieser Seite nicht vorenthalten.
Im Ferdinandeum ist das Tiroler Landesmuseum mit sehenswerten Gemälden und Sammlungen zur Geschichte des Bundeslands untergebracht. Bis Ende November 2022 kann man auch die Madonna von Lukas Cranach von nahe betrachten, die sonst, weit von den Betrachtenden entfernt, als Gnadenbild im Dom steht, der zurzeit wegen Renovationsabreiten geschlossen ist.
Zu Innsbruck gehört die österreichische Kaffeehaustradition. Im Café Central von 1884 lebt diese Tradition weiter. Zu ihr gehört nicht nur Kaffee und ein Interieur aus der Gründerzeit, sondern auch eine Auswahl verschiedener Tageszeitungen. Wer Süsses liebt, sollte auch die seit 1803 bestehende Konfiserie Munding nicht verpassen.
Am Donnerstagmorgen setzen wir unsere Reise fort. Bei wolkenlosem Wetter steigen wir in Innsbruck (582 m ü. M.) in den Zug EuroCity nach Bozen, der sich in gemächlichem Tempo auf der zwischen 1864 und 1867 erbauten Bahnlinie zum Brennerpass (1371 m ü. M.) hochwindet. Vom Zug aus sieht man die Kunstbauten der Brennerautobahn, der wichtigsten europäischen Nord-Süd-Verbindung für den Schwerverkehr. Ein Teil der Container und LKWs ist per Bahn unterwegs, der Verkehr ist jedenfalls auch auf der Bahnlinie sehr dicht. Seit 2011 läuft die Hauptbauphase des 55 Kilometer langen Brennerbasistunnels. Dessen Eröffnung verzögert sich laut Presseberichten bis 2032.
Während sich die Architektur der Bauten ändert, sobald man in der Schweiz von der Alpennordseite das Tessin erreicht, ist im Südtirol zunächst keine Veränderung der Bauweise von Dörfern und Kirchen festzustellen. Auch die Altstadt von Bozen mit dem gotischen Dom wirkt nicht sehr südlich. Auf dem Platz neben dem Dom steht ein Denkmal von 1889 für den Minnesänger Walther von der Vogelweide, von dem die Südtiroler annahmen oder annehmen, er stamme aus dem Südtirol. Walther von der Vogelweide äusserte sich selbst aber nicht zu seiner Herkunft, von ihm selbst ist nur die Aussage überliefert: ze Ôsterrîche lernt ich singen unde sagen.
Einen italienischen Einfluss zeigen dafür die Fresken in der Johanneskapelle der Dominikanerkirche. Maler aus dem Veneto haben hier im 14. Jahrhundert Bilder gemalt, für welche die von Giotto ausgemalte Cappella degli Scrovegni in Padua als stilistisches Vorbild gilt.
Bolzano ist die Hauptstadt der autonomen Provinz Bozen in der autonomen Region Trentino Alto Adige. Drei Viertel der 103,000 Einwohner sind italienischsprachig, sonst sind alle Orte der Provinz vorwiegend deutschsprachig.
Wir haben hier am Nachmittag ein ambitiöses Besichtigungsprogramm. Nach dem Dom und der Dominikanerkirche gehen wir durch die Altstadt zum Archäologischen Museum, wo der mumifizierte Ötzi auf uns wartet. Der bis 1991 im Eis konservierte Mann starb im Zeitraum zwischen 3350 und 3100 vor Christus mit etwa 45 Jahren durch einen Pfeil. Seine Kleidung, seine Schuhe, seine Mütze aus Bärenfell, ein Beil aus Kupfer, das aus der Toskana stammt, und andere Gegenstände seiner Ausrüstung sind erhalten. Die archäologische Sensation wird auf mehreren Stockwerken sehr gut präsentiert.
Vom Stadtzentrum fährt Bus 12 zum Schloss Runkelstein (Castel Roncolo). Es ist sehr heiss, als wir den kurzen, aber steilen Weg zum Schloss hinaufgehen. Hitze und Trockenheit haben dazu geführt, dass viele Blätter Mitte Juli schon verfärbt oder zu Boden gefallen sind. Oben im Schlosshof gibt es kühles Bier, im Schloss selbst befindet sich, so steht es im Prospekt des Schlosses, der grösste profane Freskenzyklus des Mittelalters. Die Fresken aus der Zeit um 1400 zeigen höfisch elegant gekleidete Frauen und Männer, Turniere mit Lanzen und Kämpfe mit Streitkolben, mittelalterliche Sagen wie Tristan und Isolde, legendäre Helden und mächtige Herrscher. Kaiser Maximilian weilte im November 1501 auf dem Schloss und liess die Fresken, die ihn beeindruckten, im Stil der Zeit restaurieren. Experten glauben, dass die Fresken auch die Gestaltung seines Grabmals beeinflussten.
Bei der Rückfahrt mit dem Bus halten wir am Siegesplatz und besuchen die Ausstellung unter dem faschistischen Triumphbogen (1926-1928) mit Säulen aus symbolischen Liktorenbündeln (colonne di fascio littorio). Auf dem Platz war ursprünglich ein Denkmal für die Kaiserjäger geplant, aber Österreich verlor das Südtirol im Ersten Weltkrieg, und Bozen war für Mussolini die Gelegenheit, die Überlegenheit der italienischen Zivilisation über die wilden Bergbewohner beispielhaft zu demonstrieren – die lateinische Inschrift auf dem Triumphbogen drückt diese zivilisatorische Absicht jedenfalls deutlich aus. Die Ausstellung im Untergeschoss des Siegesdenkmals gibt einen guten Einblick in die Geschichte Bozens und zeigt, wie schwierig die Lage der Südtiroler Bevölkerung zwischen den zwei Weltkriegen war. Sie wurde vor die Wahl gestellt, entweder die eigene Sprache und Kultur gänzlich zu verleugnen oder sich als Reichsbürger in den von den Nationalsozialisten eroberten Ostgebieten niederzulassen.
Gegenüber der Altstadt, am rechten Ufer des Flusses Talfer (italienisch Talvera), entstand in den 1920-er Jahren ein moderner Stadtteil. Auf der Piazza del Tribunale ist bis heute ein monumentales Relief zu sehen, das die faschistische Ideologie illustriert. In der Mitte sieht man Benito Mussolini auf einem Pferd mit seinem Motto credere obbedire combattere (glauben, gehorchen, kämpfen). Statt das Relief zu zerstören, gehen die Bozener beispielhaft mit dem heiklen Denkmal um. Auf Schautafeln wird der Inhalt des Reliefs erklärt. Gleichzeitig wird dieser aber in Frage gestellt durch das Zitat Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen in den drei Sprachen ladinisch, deutsch und italienisch.
Dank dem Autonomiestatut ist das Südtirol heute eine der wohlhabendsten Regionen Europas und vielleicht auch generell ein Modell für die Lösung ethnischer Minderheitenfragen.
Für die letzten zwei Tage unserer Reise fahren wir weiter in den Süden nach Trient, italienisch Trento, Hauptstadt der autonomen Provinz Trento innerhalb der autonomen Region Trentino Alto Adige. Bevölkerungsmässig ist die Stadt etwas grösser als Bozen und etwas kleiner als Innsbruck.
Das Trentino ist italienischsprachig. Sobald man vom Bahnhof Trient in Richtung Zentrum geht, erblickt man das unübersehbare, 1896 eingeweihte Denkmal für Dante Alighieri. Das Gebiet war bis 1918 ein Teil Österreichs, und die österreichischen Behörden waren durchaus stolz auf die kulturelle Diversität ihres Landes und kooperierten, damit das Denkmal aufgestellt werden konnte. Im Weltkrieg bezeichneten die späteren Siegermächte dann aber Österreich-Ungarn als Völkergefängnis, und nach 1918 wurde das Kaiserreich in ethnische Nationalstaaten aufgeteilt.
Betrüblich war das Schicksal der italienischen Irredentisten aus dem Trentino, die im Krieg für Italien kämpften. Ihr bekanntester Vertreter war wohl Cesare Battisti, für den 1935 auf dem Hügel Doss Trento ein weithin sichtbares Mausoleum errichtet wurde. Als Staatsangehörige Österreich-Ungarns wurden er und seine Mitkämpfer nicht als Kriegsgefangene betrachtet, sondern als Landesverräter erschossen.
In der Altstadt von Trient beachten wir an der Fassade des Palazzo Salvadori, Via Manci 67 ein Medaillon aus dem 17. Jahrhundert mit einer Darstellung des Martyriums des dreijährigen Simonino, der in der Osterzeit 1475 tot aufgefunden wurde und von dem es hiess, er sei Opfer eines jüdischen Ritualmords geworden. Vierzehn Juden wurden nach einem Prozess hingerichtet, alle Juden aus der Stadt ausgewiesen. Viele Wunder wurden angeblich durch den kleinen Simon von Trient bewirkt. Trotz anfänglicher Verbote der Kirche, das tote Kind zu verehren, entwickelte sich ein Kult, und in der Kirche San Pietro wurde ihm eine eigene Kapelle gewidmet. Erst 1965 wurde der Kult abgeschafft. Die Kapelle gibt es nicht mehr, aber auf einem Holzrelief an der Eingangstüre der Kirche ist Simon noch zu sehen.
Die Altstadt von Trient ist sehenswert wegen der vielen palazzi aus der Zeit der Renaissance, die vor dem Konzil von Trient (1545-1563) neu gebaut, renoviert oder zumindest mit Fresken versehen wurden und in denen die abgesandten Kirchenvertreter während des Konzils wohnten. Wir sehen uns auf dem Weg zum Domplatz einige dieser Gebäude von aussen an und besichtigen nach einer Kaffeepause das Museo diocesano. Ein Teil der Ausstellung ist dem Konzil von Trient gewidmet, auf dem die katholische Kirche ihre Strategie gegen die Reformation entwickelte.
Gegen Ende des Nachmittags haben wir Eintritte in das Schloss Buonconsiglio reserviert. Zwischen unserem Hotel an der Via Torre Verde – das Thermometer neben dem Hotel zeigte 39 Grad – und dem Schloss legen wir eine kurze Distanz zu Fuss an der prallen Sonne zurück. Es ist der heisseste Moment der Reise.
Die Ausstellung im Schloss bietet einen guten Überblick über die Stadtgeschichte von der Römerzeit bis heute, zu erwähnen die Tabula Clesiana aus dem Jahr 46 mit einem Edikt auf einer vollständig erhaltenen Bronzetafel, die 1869 gefunden wurde. Sehenswert ist nicht zuletzt das Schloss selbst mit den vielen baulichen Anpassungen des Fürstbischofs Bernardo Clesio (1484-1539), der an vielen Orten sein Zeichen für Unitas (Einheit) hinterlassen hat und an einer besonders schönen Stelle, in der Loggia des obersten Stockwerks, den Rat des Apollotempels von Delphi samt der lateinischen Übersetzung Γνῶθι σεαυτόν id est cognosce te ipsum («erkenne dich selbst»).
Bernardo Clesio oder Bernhard von Cles wurde nach seinem Studium in Bologna Berater von Kaiser Maximilian, als Humanist korrespondierte er mit Erasmus, er war Geheimrat in Wien und wurde vom Papst 1530 zum Kardinal ernannt. Es ist nicht zuletzt seinen Bemühungen zu verdanken, dass das Konzil in Trient stattfand. Vielleicht erhoffte er sich anfänglich eine Einigung mit den Reformierten. Den Beginn des Konzils erlebte der Mann nicht mehr.
Wichtigste Sehenswürdigkeit des Schlosses Buonconsiglio ist der ciclo dei mesi, eine Darstellung der Monate des Jahres. Im Jahre 1400 beauftragte Fürstbischof Georg von Liechtenstein einen ausländischen Maler, vermutlich aus Böhmen, mit der Ausführung der zwölf Malereien, von denen elf gut erhalten sind (der Monat März fehlt). Zu sehen sind einerseits die Adeligen, die gerne paarweise herumstolzieren oder sich auch mal – im Januar – eine Schneeballschlacht liefern, die Bauern, die die Felder bestellen, und die Natur, die sich im Laufe des Jahres verändert. Die Fresken bilden die Wirklichkeit ab, aber die Perspektive ist noch nicht realistisch wie in der Renaissance, und die wichtigen Figuren, die Adeligen, sind grösser dargestellt als die weniger wichtigen.
Am nächsten Morgen fahren wir in 13 Minuten mit dem Zug in die Kleinstadt Rovereto. Hier gibt es eine mittelalterliche Altstadt und ein grosses Museum über den Ersten Weltkrieg. Wir haben aber den Besuch des Museo d’arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto (MART) auf unserem Programm. Es ist eines der bedeutendsten Museen für moderne und zeitgenössische Kunst in Italien. Wir kommen nach einer Beschäftigung mit Fugger und Maximilian also wieder in der Gegenwart an.
Das Museum in Rovereto, erbaut vom Tessiner Architekten Mario Botta, stellt eine Sammlung von Futuristen und anderen Vertretern der italienischen Moderne aus. Dieser Teil besetzt bei unserem Besuch nur etwa einen Viertel der Ausstellungsfläche. Am meisten Platz wird für Sonderausstellungen freigehalten. Erwähnen möchte ich eine Ausstellung des New Yorkers Alex Katz (bis 18. September 2022). Besonders bedeutend finde ich die Ausstellung (bis 9. Oktober 2022) von Malereien, Skizzen und vor allem Skulpturen des Italieners Giovanni Vangi (geboren 1931). Der Künstler aus der Toskana hat nach seiner Ausbildung über zehn Jahre lang in Brasilien gelebt und gearbeitet, damals interessiert an abstrakter Kunst, bevor er nach Europa zurückkehrte und sich der Darstellung menschlicher Figuren zuwandte.
Am letzten Abend unserer Reise essen wir gemeinsam im Restaurant Al Chistè in Trient, die Tische stehen in einer belebten Seitengasse. Die Speisen sind italienisch, aber die österreichische Herrschaft hat in der regionalen Küche des Trentino eine Spezialität hinterlassen: canederli – Knödel. Was die Getränke anbelangt, so sind wir im Land des Weines, und da kommt uns zugute, dass ein Teilnehmer unserer Reise selbst in Italien Wein angebaut hat.
Unsere Rückfahrt von Trient in die Schweiz am 17. Juli beginnt am frühen Morgen. Wir haben zwei Tage vorher erfahren, dass der Bahnhof Bozen am Vormittag gesperrt werde wegen der Entschärfung einer Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, die bei Bauarbeiten gefunden wurde. Im Hotel kriegen wir freundlicherweise ein unüblich frühes Frühstück.
Dann sind wir weg, fahren vorbei an den Felswänden, die im morgendlichen Sonnenlicht leuchten, steigen in Bozen aus, wo gerade 4833 Bewohnerinnen und Bewohner evakuiert werden, und verlassen die Stadt mit dem letzten Zug vor der Sperrung, der uns nach Meran bringt. Zwischen Meran und Töll werden Tunnel saniert, deswegen steigen wir für eine zehnminütige Fahrt in einen Ersatzbus. Dann fahren wir über eine Stunde lang mit einem modernen Dieseltriebwagen durch den wolkenlosen Vinschgau mit seinen Apfelkulturen flussaufwärts, dem Fluss Etsch (Adige) entlang.
In Mals (Malles Venosta) steigen wir um in ein gelbes Postauto. Der Fahrer bewältigt die heikle Durchfahrt durch das enge Stadttor von Glurns (Glorenza) meisterlich, dann geht es weiter über die Calvenbrücke und über die Grenze bei Müstair – das Weltkulturgut mit seinen karolingischen Fresken lassen wir vorbeiziehen. Vom Ofenpass aus sehen wir bei einem Blick zurück den weiss glänzenden Gletscher des Ortlers (3905 m ü. M.), der unter einem wolkenlosen und gnadenlosen Himmel noch etwas der Hitze trotzt. Dann geht die Fahrt weiter und abwärts durch den ausgetrockneten Nationalpark.
In Zernez finden wir ein Restaurant in der Nähe des Bahnhofs, bleiben aber nicht lange, fahren weiter mit der Rhätischen Bahn bis Malans – dort gibt es wieder Weinberge – und Landquart. Wir sind, wie am Morgen bei der Abfahrt, wieder in einer Schwemmebene, die eingeklemmt ist zwischen Bergen. Kurz vor Zürich verabschieden wir uns von unseren Mitreisenden, die uns seither etwas fehlen.
Gibt es Unterkünfte, die wir weiterempfehlen können?
In Augsburg haben wir im Ibis Hauptbahnhof übernachtet, das war praktisch und nicht schlecht, aber unsere erste Wahl wäre das Hotel City am Kö näher an der Altstadt gewesen, das allerdings schon im Mai nicht mehr die benötigte Anzahl Zimmer für unsere Reisedaten anbieten konnte. In Füssen übernachteten wir im komfortablen Hotel Hirsch, einem grossen Bau an der Strasse. Auch in Füssen lohnt sich eine frühe Buchung während der Hauptreisezeit. In Innsbruck verbrachten wir zwei Nächte im Hotel Central, zu dem das Café Central mit Wiener Kaffeehausatmosphäre gehört. Das Hotel ist sehr gut gelegen, komfortabel, bietet auch ein gutes Frühstück. In Bozen empfehlen wir das von einer Familie geführte Hotel Feichter. Es hat zwar offiziell nur zwei Sterne, aber das bedeutet wenig. Das Hotel liegt günstig, die Zimmer sind schön und zweckmässig eingerichtet, das Frühstück grossartig, und wenn der Koch nicht in den Ferien ist, gibt es dort auch gute, gesunde und preiswerte Mittagessen. In Trient schliesslich empfehlen wir das Hotel America, nicht weit vom Bahnhof und gleich am Rande der Altstadt. Geschätzt haben wir dort besonders, dass das Hotel uns am Tag unserer Rückreise morgens um 6 Uhr ein komplettes Frühstücksbuffet bereitgestellt hat.
Der Gründer des Hotels America war auch, wie Giovanni Vangi, ein Rückkehrer aus Amerika. Beide haben wohl verstanden, dass es auch auf dem europäischen Kontinent Möglichkeiten gibt. Ich meine auf dem europäischen Subkontinent, der zu Eurasien gehört und an guten Beziehungen zum Rest Eurasiens besonders interessiert sein müsste.
Fassadenmalereien in Trient zeigen Balkone, auf denen Kaiser Maximilian und andere Würdenträger sich unterhalten. Über die Balkonbrüstungen sind Orientteppiche gehängt. Nicht nur zwischen Norden und Süden findet seit Jahrhunderten ein Austausch statt, sondern auch, wenn nicht gerade Krieg herrscht, zwischen Osten und Westen.