Die Romandie ist anders – das ist unser Versprechen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die mit uns sieben Tage und sieben Nächte im Kanton Jura, im Neuenburger Jura und im Nordteil des Kantons Waadt unterwegs sind.
Gemeint ist damit nicht nur, dass die Romandie anders ist als die Deutschschweiz. Auch die verschiedenen Gebiete der Romandie unterscheiden sich sehr voneinander.
Es sei hier auch erwähnt, dass wir auf dieser Reise lohnende Städte und Gebiete der Romandie nicht besucht haben: das Gebiet um den Genfersee, Neuenburg, den Berner Jura, das Wallis, Freiburg, die Waadtländer Alpen und den Waadtländer Jura sowie die römische Hauptstadt Helvetiens, Aventicum.
Am 3. Juli, einem Samstag, treffen wir unsere kleine Gruppe beim Bahnhof Delémont, deutsch Delsberg, lassen unser Gepäck im nahen Hotel Ibis und gehen zu Fuss in die Altstadt. Bei unserem Rundgang retten wir uns vor dem ersten Wolkenbruch in die Kirche Saint-Marcel, die im 18. Jahrhundert erbaut wurde mit zwei Sakristeien, die eine für das wegen der Reformation nach Delsberg übergesiedelte Kollegiatstift des Klosters Moutier-Grandval, die andere für das chapitre de Salignon, verantwortlich für das Seelenheil im Salzgau, im Tal von Delsberg, in dem das fürstbischöfliche Salzregal galt.
In der Kirche liegen in zwei Nischen die Reliquien von Germanus (Saint Germain, geboren in Trier), des ersten Abts von Moutier-Grandval, und des Priors Randoald. Beide wurden im Jahr 675 ermordet, nach einem Treffen mit dem gewalttätigen Elsässer Herzog Eticho, Vater der heiligen Ottilie und gemäss der Chronik des Klosters Muri auch Vorfahre der Habsburgerdynastie.
In der Altstadt und in der Kirche machen wir unsere Gruppe bekannt mit Geschichte des Fürstbistums Basel, eines Staatswesens, das achthundert Jahre lang bestand, Teil des Heiligen Römischen Reichs war und nicht zur Eidgenossenschaft gehörte.
An dieses Staatswesen erinnert das Schloss Delsberg, das dem Fürstbischof als Sommerresidenz diente, heute eine öffentliche Schule. Bei unserem Besuch ist die Türe verschlossen, so dass wir keinen Blick auf den sehenswerten Treppenaufgang werfen können.
Zum Fürstbistum gehörten neben dem Nordjura auch die Stadt Biel und der reformierte Südjura, Gebiete, die seit spätestens dem 16. Jahrhundert mit der Eidgenossenschaft verbunden waren, und die sich dem neuen Kanton Jura 1978 nicht angeschlossen haben, und weitere Gebiete, darunter die Vogtei Birseck. Zu erwähnen ist dort besonders Arlesheim, ab 1678 Sitz des Basler Domkapitels, das seine eigenen Ländereien verwaltete, die nicht nur im Fürstbistum selbst, sondern auch im Elsass, im Markgräflerland und anderswo lagen. Die Mitgliedschaft im Domkapitel war Geistlichen vorbehalten, die einen Stammbaum mit sechzehn adeligen Vorfahren nachweisen konnten.
Der Besuch in Delsberg dient auch dazu, an die Vereinigung der fürstbischöflichen Gebiete mit Bern 1815 zu erinnern, an den Beitrag des Jurassiers Xavier Stockmar zur liberalen Umwälzung von 1830 im Kanton Bern, und an die Umstände, die schon im 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen Bern und dem Nordjura belasteten. In der Kirche Saint-Marcel erinnert eine Büste an Bischof Eugène Lachat, der das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes zur Zeit des Kulturkampfs anfangs der 1870-er Jahre verteidigte und der deswegen aus den von den liberalen Kräften regierten Kantonen seines Bistums ausgewiesen wurde.
Keine Büste haben wir in Delsberg von Jean-Baptiste Joseph Godel gefunden. Er ist Chorherr von Moutier-Grandval und weiht die Kirche Saint-Marcel im Juni 1773 als Stellvertreter des altersschwachen Fürstbischofs Simon-Nicolas de Montjoie-Hirsingue mit Pomp ein. Godel erweist sich als brillanter Diplomat im Dienst des Nachfolgers Fürstbischof Friedrich Ludwig Franz von Wangen-Geroldseck und wird später vom Klerus von Belfort und Hüningen als Abgeordneter in die französische Nationalversammlung gewählt. In Paris wird er Mitglied des Jakobinerclubs. Als revolutionärer Geistlicher leistet er den Bürgereid und wird Erzbischof von Paris. Als solcher ist er beteiligt am Entscheid zur Annexion der kurzlebigen République rauracienne durch Frankreich im März 1793. Im April 1794 wird er zusammen mit Mitgliedern der atheistischen Gruppierung der hébertistes als Verschwörer gegen die Republik guillotiniert.
Nach der Kirche besuchen wir das Musée jurassien, das einen guten Überblick über die Kulturgeschichte des Juras vermittelt. Dort finden wir eine Gipsbüste des liberalen Xavier Stockmar und viele Objekte und Dokumente aus fürstbischöflichen, französischen und bernischen Zeiten. Prominentester Gegenstand der Sammlung ist ein kunstvoll verzierter merowingischer Stab, der laut der Überlieferung dem heiligen Germanus gehört hat. Eigentlich haben wir vorgesehen, an diesem Tag noch zur Chapelle du Vorbourg zu spazieren. Der starke Regen hält uns davon ab, nicht aber vom gemeinsamen Abendessen im Restaurant La Bonne Auberge.
Am 4. Juli hat der Regen aufgehört. Wir fahren nach Pruntrut und steigen in den Zug nach Bonfol, in dem man sich um einige Jahrzehnte zurückversetzt fühlt. Auf der Lok prangt das Wappen der Ajoie mit dem drachenähnlichen Fabelwesen la vouivre. Gegenüber dem Bahnhof Bonfol steht ein leeres Hotel. Der Ort ist abgelegen und wirkt seltsam ausgestorben. Die Einwohnerzahl hat sich seit dem Jahr 1900 halbiert.
Während des Ersten Weltkriegs lag der für die Schweizer Armee heikelste Grenzabschnitt in der Gemeinde Bonfol. Die französische Armee rückte am Anfang des Krieges von der 1871 festgelegten Grenze, die noch heute, am Nordrand der Gemeinde Beurnevésin, mit der Borne des Trois Puissances markiert ist, nach Osten bis Mulhouse vor, zog sich dann aber bald bis zum Flüsschen Larg oder La Largue zurück. Beim Hof Le Largin trennte ein etwa fünfhundert Meter breiter Schweizer Wald die beiden verfeindeten Mächte. Einen literarischen Einblick in das Leben der Armeeangehörigen im Jura bietet Meinrad Inglin in seinem 1938 erschienenen Buch Schweizerspiegel.
In Bonfol sind wir wegen den mit Ton ausgelegten Fischteichen der Fürstbischöfe. Sie bilden eine sonntäglich ruhige Landschaft, in der nur manchmal das Geräusch eines fliegenden Schwans zu hören ist. Für Bonfol ist nicht der Kalkstein charakteristisch wie anderswo im Jura, sondern der Ton und die Töpferei, die lange das wirtschaftliche Rückgrat des Dorfes bildete. Der Ton hat auch Spuren hinterlassen in der Poesie des 1930 in Pruntrut geborenen Autors Alexandre Voisard, der mit seiner Ode au pays qui ne veut par mourir einen kulturellen Beitrag zum Kampf des Nordjuras für einen eigenen Kanton leistete. Argile, mon pays d’argile, so beginnt seine kämpferische Liebeserklärung an das Land der Tonerde.
Von Bonfol fahren wir zurück nach Porrentruy, deutsch Pruntrut, Hauptort der Ajoie, die BewohnerInnen heissen les bruntrutain(e)s. Vom Bahnhof gehen wir Richtung Zentrum, dann dem Fluss Allaine entlang. Wir betreten die Altstadt durch das Stadttor Porte de France. Durch eine unscheinbare Holztüre gelangen wir zum gedeckten Treppenaufgang zum Schloss. Unterwegs befindet sich in der Kapelle Roggenbach, dessen Dach mit dem Wappen des Fürstbischofs geschmückt ist, ein Modell des fürstbischöflichen Schlosses, und beim Betreten des Raumes startet ein kurzweiliger Kurzfilm.
An der Fassade der fürstbischöflichen Residenz faucht wieder eine vouivre, wirklich gefährlich sieht sie nicht aus. Das Schloss dient der jurassischen Justiz, ist also ein Verwaltungsgebäude, kein Museum. Von der Terrasse aus bietet sich ein lohnender Blick über die Stadt.
Beim Gang in die Altstadt beachten wir auf der Brücke über einen Zufluss zur Allaine das Wildschwein, das seit dem Mittelalter zu den Siegeln und Wappen der Stadt gehört. Inzwischen ist es Zeit für ein Mittagessen. Es gibt viele gute Restaurants, die meisten sind aber am Sonntag geschlossen. Offen ist das Restaurant des Deux Clefs mit einem ausgedehnten Garten, in dem viele Familien speisen, bis ein Gewitter die verspäteten Gäste verscheucht.
Wir verziehen uns ins Musée de l’Hôtel-Dieu. Die Losung Christo in pauperibus steht über dem Eingang zum ehemaligen Hospiz, wie beim Berner Burgerspittel. Das Museum bietet einen guten Überblick über die Lokalgeschichte von den Fürstbischöfen über die Uhrenindustrie bis zur heutigen Zeit. Erhalten ist auch die Apotheke des Gebäudes aus dem 18. Jahrhundert. Ein Teil des Museums ist Sonderausstellungen vorbehalten. Thema der gegenwärtigen Ausstellung ist der Objektkünstler Marcel Duchamp. Im Kühlschrank (1960), einem Geschenk von Duchamp an Jean Tinguely, versteckt sich eine Sirene, die die Dame an der Kasse freundlicherweise für uns ertönen lässt. Auf dem Rückweg zum Bahnhof gibt’s Kaffee und Kuchen in der stilvollen Auberge d’Ajoie, die wir allen Gästen der Stadt empfehlen.
Zurück in Delsberg hat der Regen aufgehört, und einige Unentwegte holen mit uns den Spaziergang zur Chapelle du Vorbourg nach. Im Bericht über unseren Ausflug vom 15. August 2020 steht mehr über diesen besonderen Ort.
Am Montag fahren wir mit dem Zug nach Saint-Ursanne. Vom Bahnhof hoch über dem Städtchen führt eine Strasse sanft nach unten. Ein Blick in die Felsen zeigt Befestigungen aus der Zeit der Grenzbesetzung. Nach etwa 300 Metern zweigt rechts ein kleiner Pfad ab. Auf diesem Weg stösst man in regelmässigen Abständen auf Holzreliefs mit Szenen aus dem überlieferten Leben des heiligen Ursicinus. Vorbei an einem Aussichtspunkt gelangen wir zur Einsiedelei, wo der Heilige gelebt haben soll, der der Stadt seinen Namen gegeben hat. In einer kleinen Höhle liegt hinter einem Eisengitter eine Statue des irischen Einsiedlers, der sich vor seiner Ankunft in Saint-Ursanne als Schüler des bekannteren Columban in Luxeuil aufgehalten haben soll. Vor ihm wacht ein Bär. In der Heiligenlegende wird berichtet, dass Ursicinus den Bären zähmte, nachdem dieser seinen Esel gefressen hatte. Kein Wunder, dass wir den Bären auch im Wappen der Stadt wiederfinden.Von der Einsiedelei gehen wir nach unten und sehen uns das Südportal der Stiftskirche an. Es lohnt sich, die steinernen Figuren aus dem 12. Jahrhundert über dem Portal genau anzusehen. Ein Mönch lehrt einen Wolf, aber der Wolf bleibt ein Wolf. Eine Nixe nährt einen Säugling mit Fischschwanz. Eine Gratisbroschüre zum 1400-Jahr-Jubiläum der Stadt erklärt, es handle sich um einen Hinweis auf den Ehebruch oder die vergänglichen Freuden, die Menschen in sündhafte Situationen locken.
In der Kirche ist eine Reliquienbüste des heiligen Ursicinus ausgestellt sowie sein zahnloser Oberkiefer. Hinter dem Hochaltar sieht man seinen Sarkophag. Barocke Elemente sind mit den trompe l’oeil-Malereien in der Apsis und einem monumentalen Baldachin vertreten. Ein Ausgang der Kirche führt in den Kreuzgang aus dem 12. Jahrhundert.
Wir gehen durch die am Montagmorgen verschlafene und nach dem Regen noch nicht ganz trockene Altstadt zum Bahnhof zurück, fahren nach Delsberg, setzen uns während der Mittagszeit in eine Confiserie mit Café gegenüber dem Bahnhof, holen unsere Rollkoffer im Hotel ab und sind bald unterwegs mit der Schmalspurbahn von Glovelier nach La Chaux-de-Fonds. Die schlängelt sich zuerst durch eine Schlucht, schraubt sich dann hoch auf die von Weiden und Tannen geprägte Landschaft der Freiberge und rollt schliesslich nach einer Stunde wie eine Strassenbahn zum Bahnhof der Uhrenstadt.
Wir beziehen unser Hotel und stellen fest, dass das Wetter sich gebessert hat. Einige Mitreisende ziehen es vor, sich auszuruhen, andere machen mit uns einen Ausflug zu einem Wasserfall, der nach Regenfällen besonders eindrücklich ist. Um dorthin zu gelangen, fahren wir mit dem Zug nach Le Locle und steigen um in einen gut besetzten Schmalspur-Triebwagen, der uns nach Les Brenets führt. Die nostalgische Bahn fährt nur noch bis 2023, dann soll sie durch einen elektrischen Bus ersetzt werden, der teilweise das Bahntrassee benutzt. Von Les Brenets gehen wir zum Saut du Doubs. Die beste Sicht auf den Wasserfall bietet ein Aussichtspunkt hoch über dem Tal auf der französischen Seite.
Am nächsten Morgen besuchen wir in La Chaux-de-Fonds zuerst das Kunstmuseum, in dem seit wenigen Jahren ein Raum speziell der lokalen Ausprägung des Jungendstils, dem style sapin, gewidmet ist. Charles L’Eplattenier (1874-1946), Lehrer von Charles-Édouard Jeanneret (1887-1965), der sich später Le Corbusier nannte, nahm seine Schüler mit in die Umgebung der Stadt und forderte sie auf, sich von den Formen der Natur inspirieren zu lassen.
Die Stadt La Chaux-de-Fonds ist ursprünglich nur ein Verkehrsknotenpunkt auf einer unfruchtbaren Hochebene ohne Trinkwasser, entwickelt sich aber im 19. Jahrhundert zu einer dynamischen Industriestadt, die auch Arbeitskräfte aus der Deutschschweiz anzieht – 1880 sind über 30% der Bevölkerung deutschsprachig.
Wegen ihrer industriellen Architektur ist die Stadt UNESCO-Weltkulturgut. Zu beachten sind einerseits die Fabrikgebäude mit ihren grosszügigen, zum Tageslicht hin ausgerichteten Fenstern, manchmal mit einer angebauten Fabrikantenvilla oder einem luxuriösen Wohnungsteil für die Besitzerfamilie, andererseits die mehrstöckigen Mietshäuser, deren Treppenaufgänge oft mit bemerkenswerten Jugendstilmalereien oder sogar mit Stuckaturen dekoriert sind. Beim Bau der Häuser wurde oft Jurakalkstein verwendet, für die Treppen aber auch Granit, der teilweise beim Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels ausgebrochen wurde.
Wir sehen uns einige Treppenhäuser an. Es sind keine Museen, sondern Häuser, in denen richtige Menschen leben, die einander freundlich bitten, bei zwischenmenschlichen Problemen nicht die Türschlösser mit Leim zu verkleben. Wir kommen vorbei an den Häusern, in denen Le Corbusier geboren wurde und Frédéric-Louis Sauser, der spätere Blaise Cendrars. Wir beachten den pompösen Brunnen von 1888, besuchen das einzigartige Ancien Manège, und kommen an den Kreuzungspunkt der Strassen mit dem Denkmal für die Republik.
Die Republik haben die Freischärler aus den Montagnes neuchâteloises gegen die Royalisten durchgesetzt, die auf Neuenburgs doppelter Identität als Mitglied der Eidgenossenschaft und als Besitz des preussischen Königs beharrten, wie sie seit 1815 bestand. Auf dem Denkmal sieht man, wie die Republik, dargestellt durch eine entschlossen vorwärtsschreitende Frau, den preussischen Adler zertritt. Fast hätten die Eidgenossen wegen dem sogenannten Neuenburgerhandel (1856-57) einen Krieg mit Preussen begonnen. Ein General war schon gewählt von der vereinigten Bundesversammlung. Dank der Vermittlung von Kaiser Napoleon III kam es nicht dazu. Das Denkmal, mit der unverkennbaren Symbolik des style sapin verziert, ist nicht das grösste Werk von L’Eplattenier. Das grösste war die neun Meter hohe Statue La Sentinelle auf dem Pass Les Rangiers, zerstört von zornigen Mitgliedern des Groupe Bélier im Verlauf des Jurakonflikts.
Gegen Ende des Nachmittags besuchen wir den Espace de l’urbanisme horloger, wo BesucherInnen der Stadt sich die Stadtentwicklung in einem kurzen Film ansehen können. Das zentrale Hochhaus Espacité mit seinem Ausblick auf die Stadt vergessen wir auf unserem Rundgang auch nicht.
Am Mittwoch nehmen wir Abschied von La Chaux-de-Fonds. Die Bahnlinie nach Neuenburg wird erneuert, ein Ersatzbus ist im Einsatz, den nahmen wir aber nicht: auf einer Ferienreise lassen wir unseren Blick nicht durch Tunnel und Schallschutzwände einschränken. Stattdessen fahren wir mit dem Zug nach Le Locle, nehmen die kurze Seilbahn vom Bahnhof ins Stadtzentrum und steigen ins Postauto, das eine Stunde lang über verschiedene Juraketten nach Neuenburg fährt. Von Neuenburg aus sind wir in zwanzig Minuten am Ende des Sees, in Yverdon.
Yverdon besitzt eine kleine, kompakte Altstadt, an ihrem südöstlichen Ende steht das Schloss, ein carré savoyard, ein Viereck mit vier Türmen, ein typisches Beispiel savoyischer Militärarchitektur. Das savoyische Schloss wurde nach der Eroberung der Waadt durch die Berner Sitz der bernischen Vögte. Sehenswerte Deckenmalereien mit dem Berner Bär aus dieser Zeit sind erhalten im Empfangsraum der Vogtei und in der Nebenstube (so im französischen Erklärungstext).
Von 1805 an diente das Schloss dem bekannten Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) als Schule. Auf der Place Pestalozzi vor dem Schloss steht ein Denkmal von 1890, das an ihn erinnert. Wir haben zur Vorbereitung der Reise Teile aus Peter Stadlers Biographie gelesen, aber auch Kritischeres (Papa Pestalozzi der Historiker Norbert Grube und Claudia Mäder). In einem der vier Türme des Schlosses sind in einem Zimmer Texte und Erinnerungsstücke an den Pädagogen versammelt. Sonst bietet das Schlossmuseum einen guten Einblick in die Geschichte dieses Ortes, das nahe an der tiefgelegenen Wasserscheide zwischen Rhone und Rhein liegt und schon sehr früh von Menschen besiedelt wurde.
Die Stadt Yverdon war im 18. Jahrhundert ein Zentrum der Aufklärung. Die encyclopédistes um Denis Diderot versuchten in Paris, das Wissen der Menschheit in gedruckter Form der zahlungskräftigen Allgemeinheit zugänglich zu machen. Der Verleger Fortunato Bartolomeo de Felice (1723-1789) übertrumpfte sie mit der umfangreicheren Encyclopédie d’Yverdon.
Einige Mitreisende haben nach dem Besuch des Museums genug Kultur gesehen, andere nicht. Mit denen fahren wir mit der S-Bahn ins benachbarte Städtchen Grandson. Dort besuchen wir nicht das bekannte Schloss, sondern die mittelalterliche Kirche. Zu erwähnen sind die Säulen, Baumaterial aus der Römerzeit, und die originellen Kapitelle aus dem 12. Jahrhundert – da gibt es Adler und wachende Löwen, menschenfressende Monster und drachentötende Engel, und ein Mensch verdreht sich, um sich einen Dorn aus seinem Fuss zu ziehen. Draussen vor der Kirche ein Giebel mit dem Wappen des Ortes, Sonne und Mond, keine bescheidene Symbolik für den kleinen Ort.
Am Donnerstag 8. Juli machen wir von Yverdon aus einen Tagesausflug ins Tal der Broye und in die rauhe Gegend des Jorat. Unser erstes Ziel ist Payerne. Ein Kreuzungspunkt von Regionalbahnen in der Ebene, ein Militärflugplatz, eine Autobahnausfahrt, knappe 10,000 Einwohner. Auf den ersten Blick keine Reise wert.
Hier steht auf einem flachen Hügel die grösste romanische Kirche der Schweiz, l’abbatiale de Payerne, also ursprünglich eine Klosterkirche, kürzlich vor dem drohenden Einsturz bewahrt, renoviert und wiedereröffnet. Neben der Abteikirche steht die Pfarrkirche mit dem Grab der Königin Bertha, der legendären Reine Berthe, die im Jahr 1817 feierlich neu bestattet wurde. Die Öffnung des Sarkophags im Mai 2021 und nachfolgende Analysen haben allerdings ergeben, dass es sich beim bestatteten Skelett nicht um Königin Bertha handeln kann.
Auch wenn ihr Skelett nicht gefunden wurde, so scheint es doch sicher, dass die Königin zwischen 957 und 961 in Payerne von ihrer Tochter Adelheid beerdigt wurde. Ebenfalls sicher ist, dass sich im 19. Jahrhundert im Waadtland ein patriotischer Kult um diese Königin entwickelt hat. Der Maler Albert Anker (1831-1910) hat sogar ein Bild von Bertha gemalt. Sie sitzt, hält eine Spindel in der Hand, umringt ist sie von Mädchen. Ein Bild du temps où la reine Berthe filait? Wohl eher ein patriarchalisches Missverständnis. Ein Szepter auf mittelalterlichen Urkunden wurde später als Spindel interpretiert.
Als die Waadt nach der bernischen Herrschaft und nach dem Scheitern der Helvetischen Republik eine neue Identifikationsfigur suchte, bot sich la reine Berthe an, Bertha von Schwaben.
Wir nutzten den Aufenthalt in Payerne, um nicht nur sie vorzustellen, sondern auch ihre zwei Ehemänner Rudolf II von Hochburgund und Hugo (Ugo) von Italien und, noch bedeutender, ihre Tochter Adelheid (Adelaïde) und ihre beiden Ehemänner Lothar und Otto.
Von Bertha ist bekannt, dass sie von ihrem Vater, Herzog Burchart II von Schwaben, um das Jahr 922 mit dem burgundischen König verheiratet wurde, um den Krieg zwischen Schwaben und Burgundern im heutigen schweizerischen Mittelland zu beenden. Nach dem Krieg begann eine Friedenszeit. Es wurden Kirchen gebaut. Laut der Überlieferung geht zum Beispiel die Gründung der Kirche Köniz auf eine Stiftung von König Rudolf und Königin Bertha zurück.
Berthas Tochter Adelheid (931-999), geboren wahrscheinlich in der burgundischen Königspfalz Orbe, ist sechsjährig, als ihr Vater in Saint-Maurice begraben wird. Sie wird sechzehnjährig Königin in Pavia, der damaligen Hauptstadt des Königsreichs Italien, überlebt als Zwanzigjährige nach dem frühen Tod ihres Gatten zusammen mit ihrer Tochter eine Gefangenschaft durch den Usurpator Berengario in der Burg Garda, kann entkommen, flieht auf abenteuerlichen Wegen und heiratet 951, wieder zurück in der Hauptstadt Pavia, den ostfränkischen König Otto, der mit einer Armee über den Brenner gezogen ist. Im Jahr 962 ist sie die erste Frau, die in Rom vom Papst zur Kaiserin gekrönt und gesalbt wird. Sie hat den Titel consors regni, regiert also mit. Nach dem Tod ihres Ehemannes Otto I und ihres Sohnes Otto II regiert sie das Reich zeitweise allein. Dank ihr existiert die Dynastie der Ottonen. Die Krönung von Otto und Adelheid 962 markiert den Beginn des Heiligen Römischen Reichs, das bis 1806 besteht.
Gibt es zu ihrer Zeit eine bedeutendere Europäerin? Ihr Leben ist bekannt, weil Odilo, Abt von Cluny, der prominenteste Geistliche seiner Zeit, ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben hat. Für Projektionen eignet sie sich nicht. Sie hat ihre bösen Verwandten nicht vergiftet. Sie hat, ganz entgegen der üblichen Praxis, ihren Feinden nicht die Augen ausstechen lassen. Dafür wirkte sie in vielen Konflikten und Machtkämpfen vermittelnd. Die Kirche hat ihr den Status einer Heiligen verliehen. Das Waadtland ignoriert sie, so zumindest mein Eindruck. Dafür hat der deutsche Historiker und Journalist Bruno Keiser vor über zwanzig Jahren ein Buch über sie geschrieben.
In Payerne wurde ausserdem der Schriftsteller Jacques Chessex (1934-2009) geboren, und hier ermordete eine Gruppe von Nationalsozialisten am 16. April 1942 einen jüdischen Viehhändler, um Adolf Hitler zu seinem Geburtstag am 20. April einen Gefallen zu tun. Dass Jacques Chessex mit seinem Buch Un juif pour l’exemple 2009 wieder an dieses Verbrechen erinnert hat, hat in Payerne gemischte Reaktionen hervorgerufen.
Von Payerne führt eine Bahnlinie dem Fluss Broye entlang nach Südwesten, nach Lucens, wo 1969 die nuklearen Ambitionen der Eidgenossenschaft in einem unterirdischen Versuchsreaktor explodiert sind, und weiter nach Moudon, in die savoyische Hauptstadt der Waadt, wo wir in der Kirche Saint-Étienne das kunstvoll geschnitzte und frei zugängliche Chorgestühl und die Zeichen der savoyischen Herrschaft an der Decke begutachten und dann die Mittagspause mit einem Spaziergang zum Gerechtigkeitsbrunnen und zur sogenannten Maison des Etats de Vaud verbinden.
Chessex schwärmt von den Restaurants in Moudon (im Portrait des Vaudois 1969). Von der damaligen Pracht ist aber wenig übrig. Die Innenstadt wirkt mit ihren vielen leeren Schaufenstern etwas vernachlässigt. Vielleicht sollten sich die Savoyer mehr um ihre Stadt kümmern.
Von Moudon fahren wir nach Ropraz, wo Jacques Chessex begraben ist, gegenüber seinem ehemaligen Wohnhaus, auf dem Friedhof, auf dem Le Vampire de Ropraz (2007) spielt.
Dort begraben ist übrigens auch der 1972 verstorbene Maler Ricco Wassmer. Eine Retrospektive hat das Kunstmuseum Bern 2015/16 gezeigt.
Zurück in Moudon finden wir ein Restaurant, das in der Lage ist, unserer unangekündigten Gruppe ein frühabendliches Fondue aufzutischen. Dann fahren wir mit dem Postauto in einer Stunde direkt von Moudon nach Yverdon. Die Route dieser beschaulichen Rückreise führt uns über Hügelketten, von denen aus wir die Alpen und den Jura erblicken, aber auch durch alte Dorfzentren, in denen niemand aussteigt oder einsteigt.
Am nächsten Morgen sind wir wieder mit dem Postauto unterwegs. Diesmal fahren wir durch Dörfer über der sonnigen Ebene zu den römischen Mosaiken von Orbe, die für unseren Besuch öffnen – sie sind sonst nur samstags und sonntags im Sommerhalbjahr zu besichtigen. In römischer Zeit wurde hier ein landwirtschaftlicher Gutshof, eine villa, gebaut und mehrmals vergrössert. Ein Film und eine Ausstellung stellen die Ausgrabungen vor. Für einige Mosaike wurden Schutzbauten schon in den 1840-er Jahren errichtet.
Ein Mosaik stellt die römischen Götter dar, die bis heute unsere Wochentage benennen, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Zeus, Venus, Saturn. Waren die Römer besonders religiös? Die Mosaike schmücken den Fussboden, es sind nicht Altäre.
Wie weit ist die antike Götterwelt von unserer Religion entfernt? Die antiken Götter sind unberechenbar und handeln triebhaft. Zeus ist besonders hemmungslos und verwandelt sich, um Frauen und gelegentlich einen Mann (Ganymed) zu verführen. Grundsätzlich gilt, dass man den Göttern nicht trauen kann. Deshalb braucht es Auguren, die ergründen, ob und wann übelgelaunte Götter die menschlichen Unternehmungen gefährden.
Der Kult der Sonne entwickelt sich verhältnismässig spät, der Staatskult für den sol invictus («unbesiegte Sonne») ab 274. Anhänger des Mithras, die auch in der villa von Orbe ihre Kultstätte haben, identifizieren Mithras mit der Sonne. Auch Kaiser Konstantin ist ein Anhänger des Sonnenkultes, bis ihm ein Traum seinen vernichtenden Sieg über seinen Konkurrenten Maxentius mit einem Christusmonogramm in der Sonne ankündigt. Das Christusmonogramm wird zum Feldzeichen, aus dem friedliebenden Christentum wird eine Staatsreligion, und jahrhundertelang segnen Priester Kanonen.
Die villa entspricht offenbar dem Ort, der zur Zeit der Römer Urba genannt wurde. Trotz dem urbanen Namen wurden keine Überreste einer Stadt gefunden. Urba war aber ein Kreuzungspunkt. Es liegt einerseits an den Verkehrswegen entlang des Jurasüdfusses, andererseits an der wichtigen Strasse von Rom über den Mons Jovis (wörtlich Jupiterberg, später Mont-Joux, heute Grand Saint-Bernhard) und über den Jura nach Vesontio / Besançon und weiter, also an der mittelalterlichen Via Francigena von Canterbury nach Rom gemäss der Wegbeschreibung von Erzbischof Sigerich aus dem Jahr 990.
Nach der Besichtigung der Mosaiken machen wir uns zu Fuss auf ins Zentrum des Städtchens Orbe. Auf der Esplanade du Château, gleich neben der Tour Ronde, steht ein Baum, daneben eine kaum noch lesbare Tafel, die darüber informiert, dass der Baum 1998 anlässlich des Bicentenaire de la Révolution vaudoise gepflanzt wurde. Was die Waadtländer stolz als ihre Revolution sehen, wird von anderen Schweizern als die grösste Katastrophe der Geschichte betrachtet: der Untergang der alten Eidgenossenschaft mit dem Einmarsch französischer Truppen. Der gemeinsamen Schweizer Geschichte entspricht nicht immer eine gemeinsame Beurteilung der Vergangenheit.
Wer hat die französischen Truppen eingeladen? Der Waadtländer Jurist Frédéric-César de la Harpe richtet im Dezember 1797 eine Petition an das Directoire in Paris und bittet Frankreich, als Garantiemacht im Waadtland einzugreifen, um die überlieferten Rechte der Waadtländer gegen die Übergriffe Berns zu schützen.
Der 1233 erbaute Rundturm gewährt Einlass für ein Zweifrankenstück. Vorsicht beim Aufstieg mit einem vorstehenden Stein, an dem man sich in der Dunkelheit den Kopf blutig schlagen kann. Von der Terrasse aus sieht man auf die Stadt, auf den viereckigen Turm der Kirche, auf die Ebene mit der Industrie und das Hochsicherheitsgefängnis Bochuz, auf Jura und Alpen.
Orbe hatte ursprünglich mehrere Kirchen. Nach der von Bern unterstützten Reformation bleib eine einzige. Beim Besuch lohnt es sich, den Lichtschalter zu finden und die Kirche genau anzusehen. In der Kirche predigte der einzige Waadtländer Reformator, der Urbigène (Bewohner von Orbe) Pierre Viret. Von ihm gibt es eine Büste in der Kirche. Aufmerksame Besucherinnen und Besucher entdecken, dass die am Bau beteiligten Steinmetze sich nicht auf religiöse Darstellungen beschränkten.
Nach einer Mittagspause verlassen wir die Stadt, die eigentlich noch viel mehr zu bieten hat. Erwähnt sei hier nur die in Stein gemeisselte Androhung einer Busse von 20 Batzen für Fuhrleute, die sich erlauben sollten, die steile Strasse zur alten Brücke hinunter ohne Hemmschuh zu befahren.
Wir fahren mit dem Postauto nach Arnex, steigen um auf den Zug, der von Lausanne nach Vallorbe fährt, und steigen in Croy-Romainmôtier aus. Von dort aus führt ein angenehmer Wanderweg ins uralte Städtchen Romainmôtier. Pippin, der Vater Karls des Grossen, traf hier im Jahr 753 den Papst.
Am Wochenende ist der Ort ein beliebtes Ausflugsziel, ein allzu beliebtes. An einem Wochentag kann man sich hingegen in Ruhe bei Kaffee und Kuchen auf die Stühle des Café du Prieur setzen und die Atmosphäre des Ortes geniessen.
Natürlich lohnt sich auch ein Besuch der Kirche, in der die 21-jährige, schon verwitwete Margarethe von Österreich, Tochter von Kaiser Maximilian I und Maria von Burgund (ihrerseits Tochter Karls des Kühnen) im Dezember 1501 Herzog Philibert II von Savoyen geheiratet hat. Auch Margarethes zweiter Gatte Philibert starb früh, und die junge Statthalterin der reichen Niederlande baute für ihn – und für sich selbst – das wohl kunstvollste Grabmonument des frühen 16. Jahrhunderts. Es kann in der Abteikirche Brou bei Bourg-en-Bresse besichtigt werden. Diese Geschichte hat zwar keine uns bekannten Spuren in Romainmôtier hinterlassen. Sichtbar ist dafür im Chor der Abteikirche das Grabmal des Priors Henry de Sévéry, der im Dienst von Gegenpapst Clemens VII Karriere machte, 1396 im südfranzösischen Rodez starb und als toter Mann nach Romainmôtier zurückgebracht wurde. Die enge Vernetzung des Gebiets der Schweiz mit dem restlichen Europa ist keine neue Entwicklung.
Wir fahren mit dem Postauto nach Croy-Romainmôtier, staunen über das Mohnfeld neben dem Bahnhof und fahren mit der S-Bahn via Cossonay zurück nach Yverdon.
Freitagabend in Yverdon. Den letzten Abend der Reise verbringen wir gesellig bei einem guten gemeinsamen Abendessen. Die Rückreise bei Sonnenschein begannen einige Mitreisende am nächsten Morgen auf dem Schiff nach Neuenburg – slow travel eben.
Es regnete oft während dieser Reise, aber oft zeigte sich auch die Sonne, und der intensive Regen mit den tödlichen Überschwemmungen in Deutschland folgte erst in der nächsten Woche.
Leserinnen und Leser, die sich für die besuchten Orte interessieren, verweisen wir auch auf unsere kurzen Berichte über unsere Tagesausflüge nach Moudon und Ropraz (1. Juni 2019), zu frühen Orten des Christentums (7. September 2019), über La Chaux-de-Fonds (18. Januar 2020) und Delémont (15. August 2020).
Zur Kultur gehören auch Unterkünfte und Restaurants. Übernachtet haben wir in Delsberg im Ibis, in La Chaux-de-Fonds im Athmos und in Yverdon im Hôtel du Théâtre.
Gut und stilvoll isst man in Delsberg in der Bonne Auberge – dort verbrachten wir unseren ersten Abend. Das Lokal ist bei der lokalen Kundschaft beliebt, das spürt man. In Delsberg können wir auch das Métropole empfehlen. Beide Restaurants haben ihre Punkte im Gault Millau Gastroführer und haben trotzdem nicht übertriebene Preise.
In La Chaux-de-Fonds seien La Feuille de Vigne (griechisch) und La Différence positiv erwähnt. Im Café Le Vostok, das von einer Genossenschaft betrieben wird, gibt es günstige Getränke. Vom Schaufenster aus grüsst der Kosmonaut Juri Gagarin.
In Yverdon gibt es auf dem grossen Platz zwischen Schloss und Pestalozzidenkmal drei Restaurants mit Terrassen, die von aussen alle ähnlich aussehen. In zwei dieser Restaurants finden wir selbst und Mitreisende das Essen trotz vielversprechender Speisekarten beinahe ungeniessbar. Eine positive Überraschung ist hingegen das Restaurant du Château, wo ein leidenschaftlicher Koch aus Neapel wirkt und wo wir den letzten Abend unserer Reise verbringen.