Tiefe Wolken hängen über Einsiedeln, als wir an diesem Samstag kurz nach 8 Uhr durch die morgendlich leeren Strassen der Klosterkirche zustreben. Wir halten beim Brunnen auf dem riesigen Platz, blicken auf die nach aussen gewölbte Fassade der Klosterkirche und steigen die Treppen zum Eingang hoch, als es leicht zu regnen beginnt.
Die Farben der barocken Pracht im Innern sind etwas gedämpft bei bedecktem Himmel, und doch ist die Kirche, die im Wesentlichen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammt, besonders stimmungsvoll, wenn sie fast leer ist.
In der Kloster- und Wallfahrtskirche bemerkt man beim Eintreten einerseits den geräumigen Kirchenraum, andererseits die Gnadenkapelle, ein Gebäude im Gebäude. Ein Teilnehmer erinnert sich an die Santa Casa in Loreto, mir kommt die Kapelle Porziuncola in Assisi in den Sinn. In der Gnadenkapelle befindet sich die Holzstatue der Madonna mit dem Jesuskind, mit einem kostbaren Behang bekleidet. Die Votivbilder an der Westwand und die aufgehängten Krücken zeugen von wunderbaren Rettungen und Heilungen.
Wir begeben uns zuerst ins Kirchenschiff, das mit einem schmiedeeisernen Gitter vom Chor getrennt ist. Wir betrachten die Gemälde im Gewölbe genauer. Was wird dargestellt?
Über dem Chor, aber von der Abschrankung aus noch gut erkennbar hat der aus der Nähe von Ulm stammende Maler Franz Anton Kraus (1705-1752) in seiner Deckenmalerei den Moment eingefangen, in dem Jesus seinem Vater die Bereitschaft kundtut, die Menschheit zu retten. Es scheint, dass er gerade herangeflogen ist, sein linker Arm ist erhoben wie bei einem Schüler, der sich eifrig meldet, und in der rechten Hand trägt er das Buch mit den sieben Siegeln. Gottvater sitzt erhöht und beugt sich zu ihm vor. Überstrahlt wird die Begegnung durch die Taube, die den heiligen Geist darstellt. Wir sehen drei Figuren, die zusammen eine Gottheit darstellen. Engel tragen ein Kreuz und die Leidenswerkzeuge herbei, und aufmerksame Erdenbewohner betrachten die Szene. Es gibt zwar ein biblisches Verbot, sich von Gott ein Bildnis zu machen. Gleichzeitig bezieht dieses ungewöhnliche Bild der Dreieinigkeit sich doch auf eine konkrete prophetische Bibelstelle.
Die Szene ist jedenfalls nicht statisch. Barocke Malerei fängt den entscheidenden, dynamischen Moment einer Handlung in einem Bild ein. Kino vor der Erfindung des Kinos.
Die Kuppel über uns stellt die Weihnachtsgeschichte dar. Sie stammt von Damian Cosmas Asam (1686-1739), Sohn eines Vorarlberger Malers und Stuckateurs. Das Bildmotiv ist eigentlich ruhig, abendländischen Augen vertraut, aber auch in dieser Kuppel ist viel in Bewegung.
In der nächsten Kuppel (auf dem Weg zurück zum Eingang) eine Darstellung des letzten Abendmahls, auch von Asam gemalt, der sich in Rom ausbilden liess und dort 1713 den ersten Preis der Künstlervereinigung Accademia di San Luca gewann. In Einsiedeln arbeitete er mit seinem jüngeren Bruder Egid Quirin (1690-1750), Stuckateur und Bildhauer. Es lohnt sich, genauer auf die Art zu achten, wie die Künstlerbrüder die Illusion von zusätzlicher Höhe erzeugen, beispielsweise durch die Darstellung von Treppen, die zum Abendmahlstisch hinaufführen, und von Säulen, die der Kuppel zusätzliche Höhe verleihen.
Im westlichsten Teil des Kirchenschiffs, beim Eingang, ist das Kirchenschiff zu einem mächtigen Achteck ausgeweitet. Die Deckenkonstruktion wird gestützt von zwei Pfeilern beidseits der Gnadenkapelle. Die künstlerische Gestaltung der Gewölbeteile des Achtecks hat ein einziges Thema, die sogenannte Engelweihe.
Wir sehen den Versuch des Bischofs von Konstanz, die ursprüngliche Klosterkirche am 14. September 948 einzuweihen, und die Intervention des Himmels, der die Weihe durch den Bischof verhindert und diese gleich selbst vornimmt. Der Blick nach oben ist ein Blick auf Jesus, Gottvater, den Heiligen Geist, Maria, Kirchenväter und viele Engel, also auf all die himmlischen Akteure, die an dieser Weihe teilnehmen. Malereien und Stuckaturen sind so aufeinander abgestimmt, dass man sie kaum mehr voneinander unterscheiden kann. Die Streben des Gewölbes begrenzen die einzelnen Bilder nicht streng, stattdessen überlagert der dargestellte Himmel teilweise die Bogen des Gewölbes.
Weil kein Bischof die Kirche geweiht hat, ist das Kloster seit dem 10. Jahrhundert auch keinem Bischof unterstellt, nur direkt dem Papst.
Anschliessend verweilen wir vor den Seitenkapellen und befassen uns mit den frühen Christen, die dargestellt sind. Es sind der Heilige Mauritius, König Sigismund, Kaiserin Adelheid, der Einsiedler Meinrad, Bischof Wolfgang, der Abt Eberhard, Benedikt, der Gründer des Benediktinerordens, und andere.
Beim Versuch, mir selbst und einer Gruppe von Interessierten eine kulturelle Sehenswürdigkeit näherzubringen, suche ich jeweils Informationen in Bibliotheken und im Internet. Besonders gut fand ich den sechshundert Seiten starken Band über das Benediktinerkloster Einsiedeln von Werner Oechslin und Anna Buschow Oechslin, den die Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK im Jahr 2003 publiziert hat.
Wir halten uns eine Stunde in der Kirche auf, dann sind wir bereit für eine Kaffeepause. Wir beschränken uns an diesem Tag aber nicht auf Einsiedeln, sondern wollen zwei weitere Orte besuchen, die mit Einsiedeln in enger Beziehung stehen. Die Fahrt verbinden wir mit zwei kurzen Fussmärschen. Das passt. Schliesslich war der Heilige Meinrad, der erste Einsiedler in Einsiedeln, auch zu Fuss unterwegs.
Kurz nach 11 Uhr fahren wir mit dem Bus über den Damm des Sihlsees zum Postplatz des Dorfes Egg. Der Regen hat aufgehört, und wir machen uns auf den Weg nach dem Etzelpass, Gehzeit 40 Minuten gemäss dem gelben Wegweiser. Auf dem Etzelpass lebte, vom Kloster Reichenau kommend, der Heilige Meinrad als Einsiedler in den Jahren 828 bis 835, bevor er in den finsteren Wald weiterzog, an den Ort des heutigen Klosters, wo er noch einsamer sein konnte, aber im Jahr 861 von zwei Räubern erschlagen wurde. Zwei Raben folgten den zwei Mördern bis Zürich. Diese zwei Raben sind in den Wappen des Klosters – auf gelbem Grund – und des Ortes Einsiedeln – auf rotem Grund – abgebildet.
Heute steht auf dem Etzelpass eine Kapelle. Ein Deckengemälde zeigt die Versuchungen des Eremiten durch drollige Teufel.
Auf dem Pass befindet sich auch das Gasthaus St. Meinrad, ein gastlicher Ort mit guter Küche und freundlicher Bedienung, den wir angesichts des kühlen Wetters besonders schätzen.
Kurz nach 14 Uhr machen wir uns auf und wandern auf dem Wanderweg abwärts durch Wälder, Wiesen und Panzersperren in Richtung Pfäffikon. Eine knappe Stunde später steigen wir an der Haltestelle Abzweigung Etzelpass ins Postauto, steigen in Pfäffikon auf die Bahn um und in Rapperswil schliesslich auf das Schiff, das bald auf der Insel Ufenau (eigentlich Ufnau) landet.
Die 958 oder 959 verstorbene schwäbische Herzogin Reginlinde, Mutter der vor allem im Waadtland bekannten Königin Bertha, Grossmutter der in Einsiedeln dargestellten Kaiserin Adelheid, verbrachte auf der Ufenau ihren Lebensabend. Sie war eine Karolingerin, stammte also von Karl dem Grossen ab. Da in der männlichen Linie keine Nachfolger Karls des Grossen mehr lebten, bemühten sich alle Adeligen, die nach Herrschaft strebten, um Frauen mit karolingischer Herkunft und entsprechender dynastischer Herrschaftslegitimation.
Anfangs des 10. Jahrhunderts stritten im Gebiet, dass heute das schweizerische Mittelland ist, der Herzog von Schwaben und der König von Burgund um die Vorherrschaft. Der König wurde 919 in der Schlacht von Winterthur geschlagen. Im anschliessenden Friedensschluss heiratete die schwäbische Herzogstochter Bertha den burgundischen König Rudolf II.
Reginlindes erster Ehemann, Burchard II, Herzog von Schwaben, starb 926 beim Versuch, seinem Schwiegersohn, dem burgundischen König Rudolf II, bei der Durchsetzung seiner Herrschaftsansprüche in Italien zu helfen. Um die politische Stabilität im Reich zu sichern, empfahl oder gebot der deutsche König Reginlinde, einen Mann aus seiner Verwandtschaft zu heiraten – den nächsten Herzog von Schwaben.
Kaiser Otto I, in zweiter Ehe verheiratet mit der erwähnten Adelheid, schenkte die Insel im Jahr 965 dem Kloster Einsiedeln.
Mit Reginlinde lebte auch der Wandermönch Adalrich, möglicherweise ihr Sohn. Von ihm ist bekannt, dass er zu Fuss über das Wasser auf die Insel ging, als die Fährleute wegen Sturm nicht fahren wollten. Im Kirchlein Sankt Martin auf der Insel steht ein Sarkophag Adalrichs aus dem 17. Jahrhundert. Auf ihm ist auch festgehalten, dass Adalrich Manna vom Himmel erhielt. Eine kleine Reliquie des etwas vergessenen Heiligen befindet sich in der Kapelle Sankt Meinrad auf dem Etzelpass.
Neben der grösseren Kirche Sankt Peter und Paul liegt Ulrich von Hutten (1488-1523) unter einer Grabplatte. Er ist kein katholischer Heiliger, ganz im Gegenteil.
Hutten war ein deutscher Ritter. Vor der Reformation, 1514 bis 1519, stand er im Dienst des Erzbischofs von Mainz Albrecht von Brandenburg, der als Kurfürst und Erzkanzler des Reiches auch ein mächtiger Politiker und als Herrscher über Kurmainz ein wichtiger Territorialfürst. Hutten, ein Vertreter des Renaissance-Humanismus, war später, ähnlich wie Erasmus von Rotterdam erfolgreich, als Publizist tätig. Er wetterte gegen Missstände, ähnlich wie Luther kritisierte er die weltliche Herrschaft der Kirche, den Ablasshandel, generell die beträchtlichen Gelder, die die deutsche Nation – er verwendete den Begriff – nach Rom transferierte, wo sie für Prestigebauten wie den Petersdom verwendet wurden oder versickerten.
1521 liess Hutten die Schrift des italienischen Humanisten Lorenzo de Valla drucken, der einige Jahrzehnte zuvor mit einer linguistischen Analyse nachgewiesen hatte, dass die Konstantinische Schenkung eine grobe Fälschung späterer Zeit war. Jahrhundertelang hatte die Kirche unangefochten behauptet, das beträchtliche Territorium des Kirchenstaates anfangs des 4. Jahrhunderts als Schenkung von Kaiser Konstantin erhalten zu haben. Jahrhundertlang hatte man die Geschichte geglaubt, und auch nach Huttens Publikation lebte der Kirchenstaat noch fort bis ins 19. Jahrhundert – und genau genommen bis heute, denn der Papst leitet ja nicht nur die katholische Kirche, sondern ist auch Staatsoberhaupt.
Nicht lange gelebt hat dafür der arme Hutten. Huttens Lebensabend auf der Insel inspirierte den Zürcher Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) zum Gedichtzyklus «Huttens letzte Tage», der viel zur Bekanntheit des Autors beitrug.
Warum starb Hutten so früh, mit 35 Jahren?
Er hatte sich in seiner Jugend mit Syphilis angesteckt, einer neuen, eben aus Amerika eingeschleppten Krankheit. Hutten glaubte lange an eine Heilung, aber die Krankheit war stärker. Sein Freund, der Reformator Zwingli, der seine geistliche Karriere als Leutpriester in Einsiedeln begonnen hatte, konnte dank seinen Kontakten in Einsiedeln erwirken, dass man dem kranken Hutten auf der Insel Asyl gewährte. So starb der Katholikenschreck Hutten friedlich in katholischer Obhut.
Zwingli war acht Jahre später kein so friedlicher Tod vergönnt. Er wurde in Kappel 1531 nicht nur getötet, sondern auch noch gevierteilt und verbrannt. Böse Zeiten, damals wie heute.