Nach dieser Reise geht es mir wohl ähnlich wie dem Evangelisten Johannes auf Patmos, hier dargestellt in einem Glasfenster des beginnenden 14. Jahrhunderts in der Kathedrale Beauvais. Er scheint sich zu fragen: womit soll ich nur anfangen?
Ich beginne mit der Feststellung, dass eine Bahnfahrt nach Paris mit dem train à grande vitesse TGV keine besondere Herausforderung ist. Eine Autofahrt zu den gotischen Kathedralen in Nordfrankreich auch nicht.
Aber kann man die Kathedralen in der Champagne und der Picardie mit dem öffentlichen Verkehr erreichen? Es ist nicht einfach, aber möglich. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass die Züge nicht so regelmässig verkehren wie in der Schweiz. Wer den Zug um 07.26 Uhr von Reims nach Laon verpasst, nimmt den nächsten Zug um 12.41 Uhr.
Natürlich könnte man alle Orte auch in Tagesausflügen von Paris aus besuchen. Aber das wollen wir nicht. Wir haben uns eine Rundreise ausgedacht.
Warum aber sollte jemand überhaupt in diese Gegenden reisen?
In Nordfrankreich ist der gotische Stil entstanden, wobei die Bezeichnung “gotisch” erst viel später aufkam – von Giorgio Vasari (1511-1574) war sie als Schimpfwort gemeint.
Nordfrankreich ist auch das Ursprungsgebiet des Frankenreichs, aus dem sich das Königreich Frankreich entwickelt hat.
Ein weiterer Grund ist ein lange andauerndes Missverhältnis. Jeden Tag besuchten durchschnittlich 30,000 Menschen die Kathedrale Notre-Dame von Paris. Pro Jahr waren es bis zu 14 Millionen. Die in mancher Hinsicht vergleichbaren Kathedralen ausserhalb von Paris wurden kaum beachtet. Mir schien, dass es Zeit war für eine Korrektur.
Die Korrektur kam als Katastrophe. Der Brand der Kathedrale Notre-Dame von Paris am 15. April 2019 löste in der säkularisierten Hauptstadt Trauer und ungläubiges Entsetzen aus. Als der Dachreiter von Notre-Dame, la flèche, ins Innere der brennenden Kirche stürzte, fühlte es sich an wie ein Weltuntergang. Präsident Emmanuel Macron, sonst ein eifriger Verfechter des Laizismus, versprach sofort, dass man die Kathedrale wieder aufbauen werde, und zwar noch schöner als zuvor.
Wir planten unsere Reise nach Nordfrankreich für den April 2020, im Februar publizierten wir Inserate. Die Pandemie verunmöglichte die Reise vorerst.
Nun endlich hat die Reise stattgefunden in die Städte Reims, Soissons, Laon (Bild), Amiens, Beauvais, zur Sainte-Chapelle in Paris, nach Saint-Denis und schliesslich nach Troyes.
Es ist Samstag, der 21. August 2021, als wir, eine Gruppe aus mehrheitlich nicht miteinander bekannten Mitreisenden, kurz nach 12 Uhr im Zug von Basel nach Strassburg sitzen. Beim Umsteigen reicht die Zeit für einen Kaffee. Dann wird unser TGV angekündigt. Eine grosse Menschenmenge mit viel Gepäck setzt sich in Bewegung. Der Zug besteht aus zwei Kompositionen. Die Wagen sind etwas verwirrend nummeriert, aber wir finden unsere reservierten Sitzplätze.
Der Zug rast durch weite Landschaften und hält an Bahnhöfen, die vor fünfzehn Jahren für die automobile Menschheit auf der grünen Wiese erbaut worden sind (Lorraine TGV, Meuse TGV). Dreieinhalb Stunden nach unserer Abfahrt von Basel sind wir im Bahnhof Champagne-Ardenne TGV, der in einem Vorort von Reims liegt. Champagne-Ardenne, das war die Bezeichnung einer Region, die bis Ende 2015 existierte und ab 2016 mit den Regionen Lorraine (Lothringen) und Elsass (Alsace) zur Region Grand Est zusammengeschlossen wurde.
Ins Zentrum von Reims führt eine Strassenbahn, die zusammen mit dem TGV-Bahnhof erbaut wurde. Unser kleines Hotel mit kleinen Zimmern liegt wenige Schritte von der Place Drouet d’Erlon, der Restaurantmeile von Reims.
Ein Spaziergang zur Kathedrale – ein Mensch wirkt winzig im Vergleich zur Fassade dieses Bauwerks. Ein Apéro mit Champagner – wir sind in der Champagne. Dann geniessen wir, wegen dem drohenden Gewitterregen in einem feudalen Speisesaal sitzend, ein gemeinsames Abendessen im Restaurant Côté cuisine. Die Mitreisenden lernen sich kennen. Wir beenden den Tag mit einem nächtlichen Spaziergang durch den Park zum imposanten römischen Stadttor.
Am Sonntagmorgen überlassen wir die Kathedrale ihrer kirchlichen Funktion und besuchen stattdessen den Palais du Tau, zu Zeiten der Monarchie Residenz der Erzbischöfe von Reims. In einer gut gemachten Ausstellung wird die Geschichte der Kathedrale vorgestellt. Schwarz-weisse Fotografien zeigen das Bauwerk als Ruine ohne Dach als Folge des Artilleriebeschusses im Ersten Weltkrieg. Beim Brand schmilzt das bleierne Dach, das Metall erstarrt in den Wasserspeiern.
Die Städte, die wir in Nordfrankreich besuchen, liegen in einem Kriegsgebiet. Die Kriege von 1870/1871, von 1914 bis 1918 sowie von 1940 und 1944 haben Schäden angerichtet, nicht nur an den Kathedralen. In jeder Stadt gibt es Denkmäler mit den Namen von Hunderten von Gefallenen. Allein in der zweiten Hälfte des Jahres 1916 starben über eine Million Soldaten in der Schlacht an der Somme – den Alliierten gelangen dabei Geländegewinne von maximal 12 Kilometern.
Vor der Französischen Revolution fällt dem Erzbischof von Reims das Privileg und die Pflicht zu, den neuen König zu krönen, zu salben und zu weihen. Le sacre, so nennt sich die Zeremonie. Der Begriff wird auch für eine Bischofsweihe verwendet. Der König von Gottes Gnaden übernimmt ein religiöses Amt. Nach der Zeremonie berührt er die Geschwüre von Hunderten von Kranken und spricht die Worte: Le roi te touche, Dieu te guérit.
Die enge Verbindung zwischen Kirche und Königtum wird mit der Taufe des Merowingers Clovis, deutsch Chlodwig, begründet, die um das Jahr 500 stattgefunden hat. Von Grégoire de Tours ist die Geschichte überliefert. So wie Kaiser Konstantin glaubt, dass er dank der Hilfe von Christus die Schlacht am Ponte Milvio im Oktober 312 gewonnen hat, so wie er deswegen das Christentum legalisiert und später selbst übernimmt, so bekehrt sich auch Clovis, dessen zweite Frau die burgundische und schon christliche Clothilde ist, nach einem Sieg auf dem Schlachtfeld zum Christentum. Das Christentum, zu Beginn dem Prinzip der Gewaltfreiheit verpflichtet, ändert seinen Charakter.
Die Taufe von Clovis ist ein zentrales Thema der Kathedrale. Wir sehen Clovis in einem stilisierten Taufbecken hoch oben an der gewaltigen Westfassade, in der Mitte der galerie des rois, als eine der etwa viereinhalb Meter grossen und acht Tonnen schweren Königsstatuen. Wir sehen die Taufe als Relief am Nordportal. Wir sehen sie im Innern als moderne Glasmalerei von Marc Chagall.
Vor dem Besuch der Kathedrale besichtigen wir aber die Basilika Saint-Remi, einen 122 Meter langen Bau mit romanischen und gotischen Elementen. In ihr ist Remigius begraben, der Bischof, der Chlodwig getauft hat. Hier wurde vor der Revolution auch die Sainte Ampoule aufbewahrt, ein Fläschchen mit dem Öl, das für die Salbung des Königs verwendet wurde. Ein Vogel vom Himmel brachte das Fläschchen wundersamerweise zur Taufe Chlodwigs. Bei der französischen Revolution, die dem Königtum ein vorläufiges Ende bereitete, wurde es zerschlagen.
Die der Jungfrau Maria geweihte Kathedrale, 149 Meter lang, mit einem 61 Meter langen Querschiff, entstand ab dem Jahr 1210 als Ersatz für einen Vorgängerbau, der im Jahr 1208 abbrannte. Im 13. Jahrhundert wurde intensiv gebaut. Die Galerie mit den Königsstatuen und die Türme wurden aber erst zweihundertfünfzig Jahre nach Baubeginn fertiggestellt.
Im 18. Jahrhundert wurde umgebaut, im 19. Jahrhundert restauriert, im 20. Jahrhundert bombardiert und wieder aufgebaut. Bei einer Besichtigung der Türme erhält man Einblick in die fast hundert Jahre alte Dachkonstruktion aus Eisenbeton.
Anders als vor hundert Jahren werden nun beim Wiederaufbau des Dachs der Pariser Notre-Dame wieder massive Eichenstämme verwendet.
Am Montagmorgen stehen wir früh auf, fahren mit einem komfortablen Triebwagen nach Laon in der früheren Region Picardie, die seit 2016 zusammen mit der früheren Region Nord-Pas de Calais die Region Hauts-de-France bildet. Wir deponieren unser Gepäck im Hôtel du Tramway gleich neben dem Bahnhof und warten in einem Café auf den nächsten Zug nach Soissons, bis eine Teilnehmerin bemerkt, dass sie ihre Dokumente im Hotel in Reims vergessen hat. Die junge Dame an der Rezeption weiss, dass ihre Kollegin an diesem Morgen nach Reims fährt. Die beiden sorgen dafür, dass die verlorenen Dokumente abgeholt werden und am Nachmittag in Laon sind. Wir können das Hôtel du Tramway auch sonst empfehlen, obschon es in Laon längst keine Tramways mehr gibt.
Vor dem Besuch von Laons Innenstadt machen wir also unseren Abstecher nach Soissons, wo eine besonders harmonische Kathedrale steht.
Hier residierte der Frankenkönig Clothaire Ier, Sohn von Clovis, vom Jahr 511 an, bevor er sein Herrschaftsgebiet kontinuierlich ausweiten konnte auf alle fränkischen Gebiete. Beim Bischof Grégoire de Tours kommt Clothaire nicht gut weg mit seinen sieben Ehefrauen. Es wird ihm auch vorgeworfen, dass er zusammen mit seinem Bruder Childebert Ier zwei Söhne seines im Krieg gegen die Burgunder verstorbenen Bruders Clodomir ermordet hat, Söhne von Clothaires Ehefrau Gondioque übrigens. Gondioque war die Witwe des gefallenen Bruders, und sie war nicht damit einverstanden, dass man ihren Söhnen aus erster Ehe als Zeichen des Verzichts auf ihre Herrschaftsrechte die Haare abschnitt. Zwei Söhne werden deshalb von ihren Onkeln umgebracht. Der dritte, Clodoald, entkommt, wird Geistlicher, schneidet sich selbst die Haare und wird bis heute als saint Cloud verehrt. Eine Reliquie seines Arms befindet sich in der Kirche von Saint Cloud bei Paris.
Seltsam unchristliche Bräuche also im frühchristlichen Frankenreich, trotz der Taufe Chlodwigs. Im Verlauf dieser Woche sehen wir Dutzende von Reliefs und Glasmalereien von brutalen Folterungen und Hinrichtungen früher christlicher Märtyrerinnen und Märtyrer, aber kein einziges Bild von den Morden in der Königsfamilie.
Soissons liegt auf der Bahnlinie von Laon nach Paris. Der Bahnhof liegt etwas abseits. Man geht fünfzehn bis zwanzig Minuten auf der etwas verwahrlosten Avenue du Général de Gaulle bis in die Innenstadt.
Zur Bahnhofstrasse passt die Ruine der Abteikirche Saint Jean-des-Vignes. Durch das Loch, das die riesige Fensterrose gelassen hat, pfeift der Wind. Der Abbruch der Ruine wurde im Jahre 1805 beschlossen, trotzdem blieb sie stehen samt ihren markanten Türmen. Gut erhalten ist der geräumige Speisesaal der Mönche und die grossen Kellergewölbe.
Die Westfassade der Kathedrale Saint-Gervais-et-Saint-Protais ist von einem Baugerüst bedeckt. Der Grund ist, dass im Januar 2017 ein Sturmwind die Fensterrose ins Innere der Kirche geblasen hat. Von aussen sieht die Kathedrale heterogen aus, im Innern überrascht deswegen die perfekte Harmonie. Besonders ästhetisch ist das südliche Querschiff, der frühste Teil des Kirchenbaus. Es ist abgerundet wie eine Apsis mit Chorumgang. Wie Reims lag auch Soissons zeitweise an der Front während des Ersten Weltkriegs. Bilder in der Kirche zeigen die damaligen Schäden.
A propos déambulatoire, Chorumgang: alle besuchten Kathedralen haben einen Chorumgang, der es erlaubt, dass Gläubige um den Chor herumgehen, vielleicht in einer Seitenkapelle beten oder einer Messe beiwohnen können, sich vielleicht als Pilger Heiligung und Rettung von den vorhandenen Reliquien erhoffen, ohne dabei die Messe der Chorherren im Chor zu stören.
Montagmittag in der Kleinstadt Soissons, wo können wir essen? Uns wird das Restaurant Saint-Vincent empfohlen, das wir hiermit weiterempfehlen. Aufmerksame Bedienung, gutes Essen, korrekte Preise, viele lokale Gäste.
Nach dem Essen fahren wir durch die regnerische Landschaft zurück nach Laon und widmen uns endlich dieser Stadt, die aus Quartieren in der Ebene besteht (dort liegt auch der Bahnhof und unser Hotel) und aus einem Zentrum hoch oben auf einem Tafelberg. Vom Bahnhof erreicht man die Innenstadt auf einer bunt bemalten Treppe, die sich schlicht escalier municipal nennt, oder auf verschiedenen steilen Fusswegen. Auf der Südseite des Plateaus gibt es einen Aussichtspunkt, dort sieht man, wie die Kathedrale mit ihren Türmen sich über der Stadt erhebt.
Hier oben in Laon befand sich im 11. Jahrhundert eine der bekanntesten Schulen für Theologie und Philosophie. Hier lehrte der berühmte Anselme de Laon (Lebensdaten um 1050 bis 1117), hierhin kam der junge und kritische Philosoph Pierre Abélard (1079-1142), um Theologie zu studieren. Bekannt ist bis heute vor allem Abélards verbotene Beziehung zu seiner Schülerin und späteren Äbtissin Héloïse und die Tatsache, dass der Onkel der jugendlichen Geliebten, ein Chorherr von Notre-Dame de Paris, den bekannten Wissenschaftler kastrieren liess. Beschrieben ist diese schlimme Geschichte im Briefwechsel zwischen Abélard und Héloïse, der erhalten ist. War das Mittelalter ein erstarrtes und leidenschaftsloses Zeitalter? Die Lektüre des Briefwechsels zeigt ein ganz anderes Bild. Interessant in diesem Kontext ist auch Jacques Le Goff: Les intellectuels au Moyen Âge. Wenn ich den Autor richtig verstehe, sieht er die dargestellte Zeit als eine Renaissance vor der Renaissance.
Laon, die Stadt, die blühte, als Bern wohl noch ein Wald mit herumstreifenden Bären war, ist heute eine ruhige, verschlafen wirkende Kleinstadt mit knapp 25,000 Einwohnern. Viele Ladenlokale sind leer. Von Gentrifizierung keine Spur. An der Gasse, die zur Kathedrale mit ihren fünf Türmen führt, ein geschlossener Hundesalon.
Wie erklärt sich der Niedergang? Beginnt er 1295, als die Bürger ihre städtische Autonomie verlieren? Von da an wird die Stadt durch einen königlichen prévôt verwaltet. Oder liegt es an der Industrialisierung, die in der Ebene bessere Bedingungen vorfindet?
Die grösste Kirche der Schweiz ist die Kathedrale von Lausanne, knappe 100 Meter lang. Die Kathedrale von Laon ist zehn Meter länger. Besonders an ihr ist, dass sie innert weniger Jahrzehnte gebaut wird. Um das Jahr 1250 ist sie vollendet. Sie ist deswegen vergleichsweise einheitlich in einem frühgotischen Stil gebaut. Eine weitere Besonderheit ist der nach Osten ausgerichtete Chor mit déambulatoire, der nicht rund, sondern rechteckig ist.
Speziell sind auch die Türme. Von ihnen herab blicken Ochsen aus Stein, über deren Bedeutung verschiedene Meinungen bestehen. Eine Anerkennung für die Ochsen, die die Steinquader auf den Berg zogen? Speziell ist schliesslich die meditative Stimmung in dieser riesigen und hellen Kathedrale, in der sich die einzelnen Menschen zu verlieren scheinen.
Wenn die Kathedrale um 19 Uhr schliesst, öffnet nebenan die Crêperie Agora, wo es galettes au sarrassin gibt, zum Beispiel mit der lokalen Käsespezialität Maroilles aus dem département de l’Aisne, in dem wir uns befinden. Als lokales Getränk empfehlen wir Apfelwein (cidre) aus der Region Thiérache im Nordosten der Picardie.
Nach dem Frühstück am Dienstag steigen wir nochmals auf den Berg und besuchen die eindrückliche Kathedrale ein zweites Mal. Dann setzen wir uns in den Zug nach Amiens, der geradeaus durch die flache Landschaft der Hauts-de-France fährt.
Wo liegen eigentlich die Höhen in den Hauts-de-France? Der Bahnhof von Laon liegt 84 Meter über Meer, derjenige von Amiens 29. Die Region liegt im Norden, ist also oben auf der Karte Frankreichs, so banal ist es, und der Name erhielt bei einer Umfrage am meisten zustimmende Voten. Historiker und Geographinnen raufen sich die Haare. Die höchste Erhebung der Hauts-de-France liegt 295 Meter über dem Meeresspiegel.
Amiens, die am weitesten von der Schweiz entfernte Stadt auf unserer Rundreise, empfängt uns mit blauem Himmel und einem geräumigen Bahnhof aus den 1950-er Jahren. 1944 bombardierten die Alliierten das Viertel um den Bahnhof, als sie ihre Landung vorbereiteten. Vor dem Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke unter dem Ärmelkanal war Amiens der wichtigste Verkehrsknotenpunkt zwischen Paris und der Küste.
Gegenüber dem Bahnhof die Tour Perret, ebenfalls aus den 1950-er Jahren, vom gleichen Architekten erbaut. Oben sitzt ein achteckiges Element auf dem quadratischen Turmgrundriss, das erinnert an die Türme gewisser Kathedralen. Unser Hotel Ibis Styles liegt an der Fussgängerstrasse gleich hinter dem 100 Meter hohen Wolkenkratzer.
Wir machen einen Spaziergang durch das belebte Geschäftszentrum, entdecken den Laden von Jean Trogneux. Er gehörte dem Vater der aktuellen première dame Brigitte Macron, jetzt gehört er dem Bruder. Fünf Generationen von chocolatiers stellen Süssigkeiten her, darunter berühmte macarons.
Amiens wirkt auf uns modern und dynamisch, mit den vielen Cafés auch lebensfroh. Bevor wir die der Jungfrau Maria geweihte Kathedrale erreichen, kommen wir zu der stadtbekannten Skulptur Marie sans chemise von 1898.
Sie war Teil eines Uhrturms aus Metall, den man abgebaut und verschrottet hat, um ihn später, in den 2000-er Jahren, nach Originalplänen zu rekonstruieren.
Die Kathedrale ist UNESCO-Weltkulturgut (wie die Kathedrale von Reims samt Palais du Tau und Basilika Saint-Remi). Mit dem Bau wurde 1220 begonnen.
Der Eindruck der Westfassade der Kathedrale mit ihren drei Portalen und zwei symmetrischen Türmen ist vergleichbar mit Reims. Während in Reims die Galerie der Könige über der grossen westlichen Fensterrose liegt, ist sie in Amiens darunter. Sowohl in Reims als auch in Amiens gibt es an Sommerabenden eine Lichtschau, die auf die Fassade projiziert wird. In Amiens endet die Schau in der kühlen Sommernacht damit, dass die Kathedrale in den Farben erstrahlt, die sie vielleicht früher einmal hatte, als sie bemalt war.
Die Kathedrale ist gigantisch, denn in ihr wird eine wichtige Reliquie aufbewahrt. Ihr Raumvolumen beträgt das Doppelte der Kathedrale Notre-Dame de Paris. Das Kirchenschiff ist über 42 Meter hoch (zum Vergleich Paris 35 Meter, Chartres 36 Meter).
Die Reliquie, die den Aufwand rechtfertigt, hat ein Chorherr 1206 vom Vierten Kreuzzug mitgebracht, den die westlichen Christen nicht zur Rückeroberung der zwei Jahrzehnte früher aufgegebenen heiligen Stadt Jerusalem unternahmen, sondern gegen die christliche und reiche Stadt Konstantinopel. Der Chorherr stahl in einer Kirche eine Reliquie der Schädeldecke des Heiligen Johannes des Täufers, die dort lagerte und griechisch beschriftet war.
Ermöglicht wurde der Bau der Kathedrale durch den Reichtum aus der Textilindustrie und aus dem Anbau von Färberweid, einer Pflanze, aus welcher der begehrte Textilfarbstoff Indigo gewonnen wurde. An der südlichen Aussenwand der Kathedrale ist ein Händler mit einem Sack des begehrten Guts als Relief abgebildet. Eine Teilnehmerin, die sich auskennt, verschafft uns einen kurzen Überblick über die Kleider der Zeit und die Art, sie zu färben.
In der Kathedrale liegt die Bronzestatue des Bischofs, der den Neubau veranlasste. An der Aussenwand des Chors befinden sich spätgotische Reliefs, die das Leben Johannes des Täufers und des lokalen Heiligen Firmin darstellen. Sehenswert ist auch das aufwändig geschnitzte spätgotische Chorgestühl. Freiwillige führen dreimal pro Woche eine Führung durch, leider verpassen wir die Führung diesmal. Die Zeiten für die Führungen sind nur beim Seiteneingang zum abgesperrten Chor ersichtlich, sonst nirgends.
Nicht weit von der Kathedrale liegt an einem Seitenkanal des Flusses Somme eine Zone mit Restaurants. Dort essen die lokalen und auswärtigen Gäste bei schönem Wetter mit Blick auf das Wasser.
Am Mittwoch besuchen wir vormittags das Musée de Picardie, einen repräsentativen Museumsbau aus dem 19. Jahrhundert, der den Führungsanspruch der Stadt Amiens in der Picardie überzeugend demonstriert. Das Kunstmuseum beherbergt eine sehenswerte Sammlung, zeigt aber auch eine Sonderausstellung zu den Puys d’Amiens. Von 1388 bis 1792 existierte in Amiens eine Bruderschaft, die einmal jährlich in der Kathedrale eine festliche Veranstaltung zu Ehren der Heiligen Jungfrau durchführte, die confrérie Notre-Dame du Puy, wobei puy offenbar das altfranzösische Wort für Podium ist. Zu diesen Treffen gehörte ein gemeinsames Festessen der Bruderschaft und der städtischen Elite, ein Poesiewettbewerb mit Gedichten über die Heilige Jungfrau und die Bestellung eines Gemäldes, das dann während eines Jahres in der Kathedrale ausgestellt war. Die erhaltenen Gemälde im Stil der Renaissance der Jahre 1518 bis 1520 sind besonders sehenswert. Auf dem Bild von 1520 sitzt Maria mit dem Jesuskind unter einer Palme, im Hintergrund eine Meeresbucht, direkt an ihr steht die Kathedrale von Amiens.
Von Amiens in die südlich gelegene Stadt Beauvais gibt es keine Bahnlinie, sondern einen Bus. Der Busbahnhof von Amiens versteckt sich im Untergrund neben dem Bahnhof der SNCF. Der Bus fährt vorbei an Häuserreihen aus dunkelrotem Backstein, wie sie für den nördlichsten Teil Frankreichs charakteristisch sind, vorbei auch an der grosszügigen Bauten der Jesuitenschule La Providence, an der Emmanuel Macron einen Teil seiner Ausbildung genoss, bevor die Eltern ihn nach Paris schickten, um ihn von verfrühten sexuellen Abenteuern mit seiner späteren Ehefrau fernzuhalten. In Beauvais Centre steigen wir aus und begeben uns zu unserem Hotel nicht weit von der Kathedrale.
Mit dem Bau der Kathedrale von Beauvais wird 1225, fünf Jahre später als in Amiens, begonnen. Man versucht, höher zu bauen und die die Nachbarstadt im Norden zu übertrumpfen.
Es gelingt, einen 49 Meter hohen Chor zu bauen. Er stürzt 1284 teilweise ein, kann aber nach vierzigjährigen Bauarbeiten stabilisiert werden. Der Hundertjährige Krieg verursacht einen Baustopp. Ab 1500 wird weitergebaut. Das Querschiff steht im Jahr 1550. Man baut 1569 einen hohen Turm auf der Vierung, aber das Kirchenschiff fehlt, das den Bau wohl stabilisiert hätte, und die Pfeiler geben an Auffahrt 1573 nach. Das Querschiff wird wieder aufgebaut, aber das eigentliche Kirchenschiff fehlt bis heute. Massive und unübersehbare Holzverstrebungen im Innern verhindern heute ein nochmaliges Einstürzen der Konstruktion. Die Kathedrale ist ein beeindruckendes Monument des Scheiterns. Trotz dem Einsturz eines Teils des Bauwerks sind gotische Glasfenster erhalten geblieben (unten der Kindermord von Bethlehem und die Flucht nach Ägypten – die Geschichten versteht man, wenn man sie von unten nach oben ansieht, entgegen unserer heutigen Gewohnheit).
Zu beachten sind die Schautafeln, auf denen die Architektur von sieben Kathedralen in der Picardie verglichen wird. Neben den von uns besuchten Kathedralen in Amiens, Laon und Soissons gibt es in der Picardie die ebenfalls gotischen Kathedralen von Noyon (Geburtsort von Jean Calvin) und Senlis sowie die Basilika von Saint-Quentin.
Das Zentrum von Beauvais ist im Juni 1940 bei Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe grösstenteils zerstört worden. An der Place Jeanne Hachette macht nur die Fassade des Rathauses einen historischen Eindruck, alles andere ist nachkriegsmodern. In der Mitte des Platzes steht ein Denkmal für die unerschrockene junge Frau, die 1472 einen Angreifer von der Stadtmauer stiess, als ein Heer Karls des Kühnen die Stadt belagerte.
Sehenswert ist in Beauvais eine weitere Kirche, die gotische Kirche Saint-Etienne mit Glasmalereien aus dem beginnenden 16. Jahrhundert.
Es ist Donnerstagnachmittag, wir fahren mit dem Bus zum Bahnhof und setzen uns in die elektrische Bahn nach Paris. Nicht weit vom Bahnhof Paris-Nord beziehen wir komfortable Zimmer in einem kleinen, modernen Hotel. Dann setzen wir uns in die U-Bahn, steigen an der Haltestelle Cité aus und besichtigen die Sainte-Chapelle, die bis 19 Uhr geöffnet ist. Sie war eigentlich nicht Teil des Reiseprogramms, aber sie passt natürlich zum Thema.
Die Kapelle wird als Privatkapelle für die Residenz Ludwigs IX errichtet als Ort der Aufbewahrung wichtiger Reliquien, die man auch hier aus Konstantinopel beschafft hat, und zwar ebenfalls in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich unter anderem um die Dornenkrone Christi – mit Echtheitszertifikat – und um Teile des Kreuzes. Ludwig IX, auch als Saint-Louis bekannt, zahlt für die Reliquien mehr als die Hälfte der königlichen Jahreseinnahmen. Die Skulpturen und das Interieur der Kapelle stammen aus dem 19. Jahrhundert, die meisten Glasmalereien aus der Entstehungszeit. Ich kaufe mir eine ausführliche Publikation über die Kapelle, um beim nächsten Besuch die Bedeutung der Glasmalereien besser zu verstehen.
In Paris gibt es unzählige Restaurants. Eine Erwähnung verdient das Restaurant Chez le Libanais an der Rue Saint-André des Arts 35 im Quartier Latin.
Freitagmorgen, wir lassen das Gepäck im Hotel und fahren mit dem Zug der RER-Linie D nach Saint-Denis (Saint-Denis Voyageurs). Von dort erreicht man in einem viertelstündigen Spaziergang durch die verrufenen Multikulti-Vorstadt die frühere Abteikirche – die erwarteten Taschendiebe lassen sich nicht blicken, vielleicht schlafen sie noch. In der Abteikirche sind die meisten französischen Könige begraben. Gleichzeitig gilt sie als Ursprungsort der Gotik. Abt Suger, kurzfristig Schulkollege des späteren Königs Ludwig VI, will anders als seine asketischen Zeitgenossen um Bernard de Clairvaux eine prachtvolle Kirche, welche die Herrlichkeit des Himmels widerspiegelt, und dazu braucht er Licht und farbige Glasfenster. Auf zwei Fenstern lässt er sich selbst darstellen.
Die französischen Könige lassen sich in Saint-Denis begraben, weil sich hier ein Kult um das Grab des Heiligen Dionysus entwickelt hat. Dionysus oder Saint-Denis, Bischof von Lutetia, dem späteren Paris, wird gemäss der Legende zur Zeit der Christenverfolgungen mit zwei Gefährten auf dem Hügel Montmartre geköpft und geht anschliessend mit seinem abgeschlagenen Kopf auf dem Arm noch bis Saint-Denis, wo er zusammenbricht und beerdigt wird.
Die Statue des 639 begrabenen Königs Dagobert blickt von der Seite auf das Grab des Heiligen. Man errät seine Absicht, beim Jüngsten Tag sofort bereit zu sein, um dem auferstehenden Heiligen zu folgen, bevor es zu einem Gedränge mit anderen Auferstehenden kommt. Vielleicht gibt es auch im Paradies nur wenige gute Plätze, da möchte man nicht zu spät kommen.
Eindrücklich ist die Krypta der Basilika, die erst seit 1966 eine Bischofskirche, also eine Kathedrale ist. Dort befinden sich die Reste von Dutzenden von Königen, die man während der Revolution in einem Massengrab bestattet hat und während der Restauration wieder in die Kirche zurückbringt. Während der Revolution brauchen die Verteidiger der Republik Munition gegen die adeligen Konterrevolutionäre Europas. Die Bleisärge aller Könige werden eingeschmolzen.
Erhalten sind Grabmäler aus Stein. François Ier ist in einem pompösen Grabmal dargestellt, der Sieger von Marignano, mit seiner Ehefrau Claude de France. Man findet auch Louis XII mit Anne de Bretagne, Henri II mit Catherine de Medici, der mutmasslichen Drahtzieherin der Massaker der Bartholomäusnacht, und den mit der Guillotine hingerichteten Louis XVI mit der Österreicherin Marie-Antoinette.
Nach der Besichtigung der Basilika essen wir zu Mittag im Restaurant auf dem Platz vor der Kathedrale mit Blick auf die Fassade. Wir sehen die Fassade noch ohne die Spitze des Nordturms, die 1847 wegen Einsturzgefahr demontiert wurde und deren Wiederaufbau im September 2021 beginnen soll.
Von der Haltestelle Saint-Denis Basilique fahren wir mit der Métro zurück in die Stadt Paris, promenieren zu unserem Hotel, lassen uns unser Gepäck aushändigen und gehen die kurze Distanz zur Gare de l’Est, wo wir den Zug nach Troyes besteigen. Der Diesel-Triebwagen fährt zügig durch die Vororte und kommt nach eineinhalb Stunden im Bahnhof Troyes an. Wir sind wieder in der Champagne, diesmal in ihrem südlichen Teil. Die Bahnhofhalle aus Stahl über den Gleisen ist so hoch, dass man noch bequem atmen kann, wenn sich mehrere fauchende Dampflokomotiven unter ihr befinden. Sie stammt aus einer Zeit, als man in Troyes noch auf andere Bahnlinien umsteigen konnte. Diese Nebenlinien sind inzwischen allesamt verschwunden.
Die Bahnlinie von Paris über Troyes nach Belfort, Mulhouse und Basel wurde nie elektrifiziert, aber wenn wir einem Plakat am Bahnhof Glauben schenken, dann fahren die Züge bald mit Strom von Paris nach Troyes. Nicht weit vom Bahnhof entfernt liegt das Hôtel de la Gare, in dem wir die nächsten zwei Nächte verbringen werden.
Wir beginnen unseren Aufenthalt in Troyes mit einem Spaziergang in die Altstadt mit ihren malerischen engen Gassen mit Fachwerkhäusern. Einige baufällige Gebäude werden wieder hergerichtet, in anderen gibt es Restaurants für die zahlreichen BesucherInnen der Stadt, die aus Belgien, Holland und anderen Gegenden Frankreichs anreisen.
Troyes La Champagne Tourisme wirbt im Internet mit Outlet-Stores und Shopping, verkauft aber im Büro neben dem Rathaus auch ein handliches Buch über die Glasfenster der Kirchen – Danielle Minois: Les Vitraux de Troyes. Die Stadt war während Jahrhunderten bekannt für ihre Glasmalereischule. Der Ausstellungsort Cité du Vitrail ist dieser Geschichte gewidmet, allerdings stehen wir vor verschlossenen Türen, die Wiedereröffnung nach der Renovation ist für das Frühjahr 2022 vorgesehen.
Anders als in Saint-Denis, wo die Spitze des Nordturms fehlt, fehlt der Kathedrale von Troyes der Südturm – die Konstruktion hört auf der Höhe des Kirchenschiffes auf. Am Gebäude wurde während mehreren Jahrhunderten gebaut und geflickt. Im Inneren überraschen die mächtigen Pfeiler hinter dem Eingang, die wohl für ambitiösere Türme geplant waren.
Die ältesten Glasfenster befinden sich in der östlichsten Kapelle des Chors, sie sind dem Marienleben gewidmet und entstanden um das Jahr 1200. In den Glasfenstern, die die Taten des Heiligen Andreas illustrieren, fallen mir die Teufel auf (Bild am Ende des Berichts). Andreas weist zwei Teufel weg, die Reisende belästigen, und treibt einem Kind einen roten Teufel aus, der uns dabei die Zunge herausstreckt.
Sehenswert sind auch die späteren Glasfenster oben im Kirchenschiff und im Querschiff sowie die präzise Stadtansicht des himmlischen Jerusalems von 1623 in der Chapelle des Catéchismes der Kathedrale.
Die Folter der Heiligen Agathe wird in Glasfenstern um 1530 in der Kirche Saint-Jean-au-Marché sehr anschaulich dargestellt.
Ein Besuch lohnt aber vor allem in der Kirche Sainte-Madelaine. Am Anfang war die Erde wüst und leer – wie stellt man diesen Anfang dar? Die Darstellung der Schöpfungsgeschichte um 1500 ist jedenfalls eindrücklich. Der spätgotische Lettner ebenso.
In den vielen Kirchen stellt sich die Frage, ob die Menschen des Mittelalters religiöser waren als wir heutzutage.
In Troyes habe ich mir bei einem früheren Besuch die Romans de la Table Ronde von Chrétien de Troyes (Lebensdaten von ungefähr 1130 bis zwischen 1180 und 1190) gekauft. Was bewegt die Menschen, die sich diese Geschichten – ursprünglich in altfranzösischen Versen – erzählen lassen? Gott kommt zwar in den Geschichten vor, die ich gelesen habe. Die Helden beten zu ihm, danken ihm, aber die Wunder vollbringt nicht Gott, nicht ein Heiliger, sondern es sind die Helden, indem sie Turniere gewinnen, unzählige übermächtige Bösewichte eliminieren und auch noch die Herzen der schönsten Frauen erobern. Ein nach ihrem Verständnis gottgefälliges Leben führen sie dabei, auch wenn sie jeweils zuerst dreinschlagen und erst danach Fragen stellen. Zentral ist für sie, so scheint mir, nicht ihre Religion, sondern ihre Stärke, ihr Heldenmut, ihre Schlachtrosse und die teuren Gewänder und den Schmuck, den sie für sich und ihre Frauen beschaffen. Und ganz wichtig ist, dass sie am runden Tisch des Königs sitzen.
Eine weitere Frage, die mich beschäftigt hat: Haben die Helden des Mittelalters ein schlechtes Gewissen, wenn sie das christliche Konstantinopel erobern? Es sieht nicht danach aus. Einen Brief des Papstes, der ihnen mit der Exkommunizierung droht, wenn sie Krieg gegen Christen führen, halten die Kreuzfahrer unter Verschluss. Sie müssen der Stadt Venedig die Kosten für die Ausrüstung ihrer Flotte zurückzahlen, deswegen interessiert sie nicht das Heilige Land, sondern die Plünderung von Konstantinopel.
Nehmen wir an, dass die Reliquie eines Heiligen wirkt. Wie steht es nun mit der Wirkung, wenn man die Reliquie stiehlt? Die Kirche glaubt offenbar nicht an eine verminderte Wirkung oder an einen möglichen Fluch, also an das Risiko einer gegenteiligen Wirkung. Ende April 2020, mitten in der ersten Welle der Coronakrise, wird die Reliquie Johannes des Täufers in einer Zeremonie um Hilfe gebeten – La Sainte Relique du Chef de Saint Jean Baptiste vénérée en la cathédrale d’Amiens. Im Internet findet man dazu ein Video.
Und die Kathedralen, sind sie Zeugen des Glaubens? Vielleicht eines veränderten Glaubens. Die Vorstellung eines baldigen Weltendes ist wohl etwas in den Hintergrund gerückt. Würde man sonst Kirchen planen, deren Bau mehrere Generationen in Anspruch nimmt?
Ich sehe diese riesigen Kirchen als Denkmale des Optimismus, der Zuversicht, des Reichtums und des Wettstreits. Sie sind gewiss einerseits Denkmale des Glaubens an Gott, andererseits aber auch Monumente der Machbarkeit und stolzer Beweis der menschlichen Fähigkeit, bisher nie Dagewesenes zu schaffen. Die Erbauer der Kathedralen glauben an Gott, aber auch an den Fortschritt und an die Wissenschaften. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Glasfenster der Fensterrose des nördlichen Querschiffs der Kathedrale von Laon alle Wissenschaften der damaligen Epoche darstellen.
Der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot allein, auch nicht von den Kathedralen allein. Es braucht auch Getränke. Alle Mitreisenden wollen aus der Champagne eine Flasche Champagner heimbringen. Eine gute Weinhandlung befindet sich gegenüber der Kathedrale von Troyes.
Am ersten und am letzten Abend unserer Reisen gibt es traditionellerweise ein gemeinsames, durch das Reisebudget finanziertes Abendessen in einem guten Lokal. Den Ort habe ich mir bei meinem letzten Besuch im Juli gemerkt. Im Internet sehe ich mir nochmals die Speisekarte an.
Aber als ich reservieren will, beantwortet niemand meinen Anruf. Wir gehen vorbei: Wiedereröffnung anfangs September, so steht es auf einem Blatt Papier am geschlossenen Eingang. Dasselbe bei mehreren anderen Feinschmeckerlokalen in Troyes. La rentrée nennt sich die Rückkehr nach den Ferien und der Beginn des neuen Schuljahres in Frankreich, und diese findet jeweils am 1. September statt, auch wenn sie auf einen Tag mitten in der Woche fällt. Vorher ist Ferienzeit, offenbar auch nach den Verlusten der Pandemie.
Dank der Hilfe der Mitreisenden finden wir nach mehreren Versuchen doch ein populäres Lokal mit Ambiance in einem Fachwerkhaus und mit einem richtigen patron, der sich um das Wohl seiner Gäste sorgt und sie berät: La Clef de Voûte, deutsch der Schlussstein. Auch beim Essen werden wir an Architektur erinnert. Das Lokal ist mit savoyischen Motiven geschmückt und fühlt sich alpin an. Wir können uns mental auf die Rückreise vorbereiten, essen aber weder raclette noch fondue savoyarde. Wir trinken aber einen guten Champagner und einen guten Rotwein aus der Champagne.
Bald ist unsere Reise zu Ende. Es ist die erste Gruppenreise ins Ausland seit Februar 2020, seit dem Beginn der Pandemie. An jedem Ort, an dem wir Eintritt zahlen, und in jedem Restaurant zeigen wir diszipliniert wie alle andern unsere Covid-Zertifikate.
Sonntag 28. August, kurz nach 10 Uhr: Wir finden auf dem Bahnsteig ein sonniges Plätzchen und lassen uns wärmen. Die Woche war eher kühl für die Jahreszeit.
Der Zug von Paris nach Mulhouse fährt ein, wir finden zwei Abteile für unsere Gruppe, dann folgt eine dreistündige Fahrt via Langres, Chaumont, Vesoul und Belfort durch eine ansprechende Hügellandschaft. Der Blick nach draussen wird auf dieser historischen Bahnlinie durch keine Schallschutzwände verunmöglicht. In Mulhouse bietet sich die Gelegenheit, einen Kaffee zu trinken, denn zwischen Troyes und Mulhouse fahren keine Speisewagen mehr.
Nach der Kaffeepause folgt eine zwanzigminütige Fahrt nach Basel. Nach einer intensiven Woche ist der Abschied von der kleinen Gruppe unternehmungslustiger Mitmenschen, an deren selbstverständliche Gegenwart ich mich eigentlich ganz gut gewöhnt habe, abrupt.
Aber vielleicht sehe ich einige von ihnen wieder? Die nächste Reise zu gotischen Kathedralen planen wir vom 3.-11. September 2022, also nach der rentrée.