19. Februar 2022: Lausanne

Nach einer Fahrt mit der Metro versammeln wir uns vor dem Gebäude des ehemaligen Landsitzes Mon Repos. Im bernischen Staat, zu dem Lausanne gehört, und anderswo im zivilisierten Europa bauen die reichen und wohlgeborenen Städter im 18. Jahrhundert ländliche Villen (Landsitze, Campagnen), wo sie sich bei gesunder Luft und frischer Nahrung aus den umliegenden Höfen von der Enge, dem Lärm und den Gerüchen der Städte erholen, Kontakte zu ihresgleichen pflegen und sich kulturell betätigen.

Anders als sein armer Genfer Zeitgenosse Rousseau, den wir auf einem Ausflug am 8. Mai 2021 vorgestellt haben, verfügt der sechzigjährige François-Marie Arouet, der sich Voltaire nennt, über beträchtliche Geldmittel, als er sich im Dezember 1754 in Genf niederlässt und gleich das Landhaus Les Délices erwirbt, wo er die Winterzeit verbringt. Im Sommer lebt er jeweils gerne in Lausanne, und in Mon Repos spielt er seine Theaterstücke, wie eine braune Hinweistafel an der Villa verrät. Das Stück Zaïre, das er in Mon Repos probt, handelt nicht von der späteren belgischen Kolonie in Zentralafrika, sondern von der schönen Sklavin mit diesem Namen, die aus religiösem Fanatismus und Eifersucht von ihrem Liebhaber Orosmane umgebracht wird, bevor dieser, seinen Wahn erkennend, über ihrer Leiche Selbstmord begeht. Lange Zeit sind die etwa fünfzig Theaterstücke von Voltaire populär. Heute ist Voltaire vor allem als Philosoph bekannt durch seine polemischen Prosatexte, seine Essais, seine biographischen Studien und seine Briefe.

Der Park Mon Repos ist vor dem Bau des Bundesgerichts in seinem nördlichen Teil in den 1920-er Jahren und vor der Überbauung der Umgebung ein wunderschöner Ort am Rande eines Weinbergs über dem See. Der Steigerung der romantischen Gefühle dienen ein Aussichtspavillon, eine künstliche Burgruine und eine kleine Grotte. 

Später wird das Gebäude im Park vom Olympischen Komitee benutzt, das bis heute seinen Sitz in Lausanne hat. Aus aktuellem Anlass – die Winterspiele finden in Beijing statt – beschäftigen wir uns an diesem Tag auch mit Pierre de Coubertin, dem Gründer des Komitees, mit seiner Biografie und mit seinen Ansichten über den ungleichen Wert von Rassen und Geschlechtern.

Vom Park aus gehen wir zum östlichen Ende der Rue du Bourg. Anders als in Bern, wo ein nostalgischer Bezug zur glorreichen Vergangenheit wohl zur Erhaltung der mittelalterlichen Bausubstanz beigetragen hat, bemerkt man in Lausanne kaum, dass man die Altstadt betritt.

Am unteren Ende der Rue du Bourg kommen wir zur Kirche Saint-François, die an eine mittelalterliche Niederlassung des Franziskanerordens erinnert. Die Kirche, ursprünglich erhöht über dem See, ist heute vom See abgeschirmt durch eine Reihe von hohen Gebäuden (Banken, Post). Charles-Ferdinand Ramuz (1878-1947), der bekannteste Schriftsteller der französischsprachigen Schweiz, beklagt den Bau dieser Barriere in einem Text mit dem Titel Sur une ville qui a mal tournée im Jahr 1930: Combien de millions pour dresser un écran opaque et définitif entre les passants et la vue du sud de l’église Saint-François…

Die Kirche ist an diesem Morgen von probenden Musikern besetzt. Wir setzen deswegen unseren Spaziergang fort, gehen zurück über den von einem Markt belebten Platz und abwärts durch die Rue Saint-François zum Flüsschen Flon, das sich unter einer vierspurigen Strasse (Rue Centrale) versteckt. Neben dem Fluss befanden sich früher die Gewerbe, die die Wasserkraft nutzten, also Mühlen und Schmieden, und die Metzger und Gerber, die schmutzige Abwässer verursachten. Die Wohngegend blieb lange feucht und ungesund, eine Sanierung war gewiss notwendig, mais la solution choisie – recouvrir le Flon et construire par-dessus une route qui coupe la ville comme une plaine – me semble la pire des solutions, so die Lausanner Schriftstellerin Anne Cuneo (1936-2015).

Auf der Rue du Pont gelangen wir zur Place de la Palud. Seit 1220 ist dieser ehemalige Sumpf der zentrale Marktplatz. Auch an diesem sonnigen Vormittag. 

Zu beachten sind auf der Place de la Palud das Rathaus,  rechts davon an der nächsten Fassade eine Tafel am Geburtshaus des Malers Félix Vallotton (1865-1925), gegenüber dem Rathaus eine Inschrift in goldenen Lettern, die an die Gründung der République Lémanique 1798 erinnert. Weiter gibt es eine anlässlich der Landesausstellung Expo64 installierte Wanduhr zu sehen sowie einen Brunnen von 1584/1585 mit einer Statue der Justitia, inspiriert vom älteren Gerechtigkeitsbrunnen in der Berner Altstadt. Wenn am Rathaus eine weiss-rote Flagge im Winde weht, so ist nicht ein polnischer Gast zu Besuch. Die Stadt zeigt nur ihre eigene Flagge.

Wir gehen durch den Durchgang links neben dem Rathauseingang und gelangen auf die Place de la Louve. Am unteren Ende des Platzes plätscherte in der guten alten Zeit das Flüsschen Louve, inzwischen ist auch dieses Gewässer gebändigt unter Steinen und Beton. Geht man einige Schritte nach links, so  gelangt man zur traditionsreichen Buchhandlung Payot. Wir steigen stattdessen nach oben zur Place Saint-Laurent mit seiner auch an diesem Tag geschlossenen Barockkirche Saint-Laurent. Ein Blick nach links, und man sieht vom Platz aus das 1932 nach amerikanischem Vorbild erbaute Hochhaus Bel-Air.

Wir sind auch auf diesem Hügel weiterhin in der Innenstadt, die bis 1481 politisch von der Oberstadt, der Cité, getrennt war. 

Man könnte von der Place Saint-Laurent in wenigen Minuten zur Tour de l’Ale am Westrand der mittelalterlichen Unterstadt spazieren. Da die Mittagszeit naht, tun wir dies nicht. Dafür gehen wir zur Place de la Riponne, bemerken vorher an der Rue Haldimand 4 das Geburtshaus von Charles-Ferdinand Ramuz, überqueren den von einem weiteren Markt besetzten Platz und steigen rechts neben dem Palais de la Rumine die Treppen hoch bis zu einem ruhigen Ort, wo wir nachholen, was wir schon lange über den Schriftsteller Ramuz sagen wollten.

Auffallend ist, dass die Handlung seiner bekannten Werke La Grande Peur dans la Montage 1926, Farinet ou la Fausse Monnaie 1932 und Derborence 1934 im Wallis angesiedelt sind. Warum wohl? Ist Ramuz auf der Suche nach ewiggültigen Wahrheiten? Findet er sie vor dem Bau der Stauseen und dem Aufkommen des Massentourismus im alpinen Rückzugsgebiet des Ursprünglichen, sind sie verlorengegangen in der Stadt Lausanne, die sich in den 1920-er und 1930-er Jahren rasch modernisiert?

Ich habe vor dem Ausflug den Roman Les circonstances de la vie gelesen, den Ramuz 1907 veröffentlicht hat. Der erste Teil des Romans spielt sich in der Enge einer Kleinstadt über dem See ab, in die eine blutjunge und gutaussehende Deutschschweizerin unfreiwillig viel Unruhe bringt. Der zweite Teil präsentiert die Stadt Lausanne mit ihren schlimmen Versuchungen, die zum bösen Ende der erzählten Geschichte beitragen.

Ramuz macht sich wie kein anderer Gedanken über den Unterschied zwischen der Sprache Frankreichs und der Ausdrucksweise des Waadtlands: Nous avions deux langues: une qui passait pour «la bonne», mais dont nous nous servions mal parce qu’elle n’était pas à nous, l’autre qui était soi-disant pleine de fautes, mais dont nous nous servions bien parce qu’elle était à nous. In einem Brief an seinen Verleger Bernard Grasset beanspruchte er für sich das Recht, diese eigene Sprache zu schreiben – und verursachte wohl dadurch einen Gewissenskonflikt bei unzähligen Lehrkräften, die die Tete des Schriftstellers gerne im Französischunterricht behandelt hätten. 

Wir verabschieden uns vorläufig von der Gruppe mit Bemerkungen zum früh verstorbenen russischen Geldgeber und Weltenbummler Gabriel de la Rumine und zum Palais de la Rumine, Ort archäologischer Sammlungen und der Bücher der Akademie, Ort auch der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne 1923, in welchem die Grenzen der modernen Türkei festgelegt wurden.

Einige Mitreisende, so haben wir vernommen, haben die Mittagspause benutzt, um sich ins Café de l’Évêché zu stürzen, einem Lieblingsort des Schriftstellers Jacques Chessex, das auch im preisgekrönten Roman L’Ogre (1973) vorkommt. Sie haben an diesem literarischen Ort das Waadtländer Gericht Papet Vaudois verzehrt: Wurst mit Kohl, serviert mit Kartoffeln und Lauch. Die Gastronomie lebt an diesem ersten Samstag nach der Aufhebung der Zertifikats- und Maskenpflicht überall in der Stadt sichtbar auf. Die Restaurants und Bars von Lausanne verdienen sicher einen speziellen Rundgang, aber dazu fehlt uns die Expertise. Erwähnen möchte ich trotzdem das Bier, das wir am Ende des Nachmittags im zufällig entdeckten Café Romand trinken, wo sich seit der Eröffnung 1951 wenig verändert hat.

Wir versammeln uns am Nachmittag unter dem Blick des in Stein gehauenen Franzosen Eugène Viollet-le-Duc (1814-1879), der an der Eingangspforte der Kathedrale als König David auf unsere Gruppe hinunterblickt. Nach seiner Karriere in Frankreich war Viollet-le-Duc von 1873 bis 1876 verantwortlich für die Renovation der Lausanner Kathedrale, er ist auch in Lausanne begraben.

Der Bau der Kathedrale Notre-Dame de Lausanne beginnt in den 1160-er Jahren, die ältesten Teile befinden sich im Osten des Baus. Nach dem Konzil von Lyon 1274 begibt sich Papst Gregor X höchstpersönlich und in Begleitung von sieben Kardinälen, fünf Erzbischöfen und einem Dutzend Bischöfen nach Lausanne, um die Kathedrale in Gegenwart des 1273 gewählten deutschen Königs Rudolf I von Habsburg zu weihen. Der Papst, 1271 gewählt nach einer über tausend Tage dauernden Vakanz, erhofft sich vom König, gewählt 1273 nach dreiundzwanzig Jahre Interregnum, Unterstützung für einen neuen Kreuzzug zur Rückeroberung Jerusalems. Der König seinerseits verabredet sich für eine Kaiserkörnung in Rom im Februar 1276. Beide haben Pech. Der Papst stirbt im Januar 1276 auf dem Rückweg in der Toskana. Rudolf wird nie Kaiser. Als Rudolf im Juli 1291 stirbt, verabreden Eidgenossen aus drei Orten anfangs August, sich bei Rechtsstreitigkeiten nicht gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.

Es lohnt sich, beim Besuch der Kathedrale einen Operngucker, einen Feldstecher oder ein Fernrohr dabei zu haben. Hoch oben an der südlichen Fensterrose gibt es Glasfenster aus der Zeit von 1205 bis 1232 zu betrachten. Aber aufgepasst, es stammen nicht alle Bilder aus dieser frühen Zeit. Die vier Fenster des zentralen Bildquadrats beispielsweise sind alle neu. 

Kennerinnen und Kenner der mittelalterlichen Glasmalerei verstehen die Fensterrose als eine Art symbolische Darstellung der Welt und des Kosmos. Die mehr im inneren Bereich gruppierten Bilder zeigen die vier Jahreszeiten und die entsprechenden Monate. 

Wir finden auch die vier Elemente, die Voraussagen der Zukunft mithilfe des Feuers und des Vogelflugs, weiter aussen die Flüsse des Paradieses (original: Tigris und Geon) und die acht Winde. Gegen aussen treffen wir die Wesen, die am Rande der Welt leben: vieräugig mit Pfeil und Bogen zielend (Tetracoli), aufrecht mit Hundekopf (Conomologi), mit Augen auf der Brust (Oculus in Humeris) oder sich vom Geruch von Äpfeln ernährend (Gangrida). Antiken Vorbildern nachempfunden scheint die Darstellung des Sonnengottes Sol ganz oben in der Mitte und der Mondgöttin Luna zuunterst.

Die meisten Mitglieder der Gruppe profitieren vom sonnigen Wetter, das wir an diesem Tag zwischen zwei Sturmtiefs geniessen, und steigen auf den Turm. Auf dem Weg nach oben stösst man auf die geschnitzten Chorstühle von 1275.

An der Nordseite der Kirche halten wir bei der ehemaligen Durchfahrt durch den hinteren Teil des Kirchenschiffs, die von Fürstbischof Aymon de Montfalcon geschlossen wurde. Die Umbauten sind mit dem Wappen des savoyischen Geistlichen und Diplomaten gekennzeichnet. Auf dem Weg zum Schloss Saint-Maire blicken wir durch die am Wochenende geschlossenen Gitter des Gymnasiums. Es handelt sich um das Gebäude der 1537 erbauten Akademie.

Im Frühling 1536, zum zweiten Mal nach den Burgunderkriegen, erobern bernische Truppen die Waadt. Diesmal geht es darum, die Blockade zu durchbrechen, die das katholische Herzogtum Savoyen gegen die reformierten Glaubensbrüder in Genf verhängt hat. Die Lausanner, dank einem Burgrechtsvertrag mit Bern verbündet, helfen ihnen dabei. Anfänglich garantieren die Berner die Glaubensfreiheit, im Oktober 1536 veranstalten sie die Lausanner Glaubensdisputation, an Weihnachten wird die Reformation per Dekret eingeführt. Nun braucht die Waadt französischsprachige Theologen, die fähig sind, die Bibel zu lesen und zu erklären. Die Akademie ist der erste Bau, der in der Romandie eigens für den höheren Unterreicht erbaut wird, 23 Jahre vor dem Collège Calvin in Genf.

Unser Rundgang endet vor dem Schloss Saint-Maire, Sitz der Kantonsregierung, beim Denkmal von Jean Daniel Abraham Davel, 1670-1723. Major Davel marschiert am 31. März 1723 mit 600 Mann nach Lausanne, verrät ihnen aber den Zweck des Marsches nicht. In Abwesenheit des Vogtes verlangt der Major, ein respektierter Notar und schlachterprobter Offizier in ausländischen und bernischen Diensten, eine Unterredung mit den Lausanner Behörden. Er erklärt ihnen, dass er das Waadtland von der bernischen Herrschaft befreien will. In einem Manifest hat er die Probleme seiner Zeit aufgelistet. Man hört ihm geduldig zu, bittet ihn um etwas Geduld, um die Sache zu besprechen, erneuert in Davids Abwesenheit den Treueschwur gegenüber der segensreichen bernischen Herrschaft, informiert Bern sofort über den bedauerlichen Einzelfall, bietet für den nächsten Morgen Milizen auf. Nach einer Nacht, in der man für die Truppe angemessene Unterkünfte organisiert und mit dem Major angeregte Gespräche geführt hat, verhaftet man den Major, verhört ihn. Es gibt keine Mitverschworenen. Davel gibt an, dass er den Auftrag für seine Handlungen direkt von Gott erhalten hat, und wird wegen Rebellion zum Tod verurteilt. Bern schwächt das Urteil noch leicht ab, unterstreicht damit die Milde seiner Herrschaft, beim Todesurteil bleibt es aber.

Vor der Vollstreckung des Urteils durch das Schwert bleibt der Major freundlich im Umgang, gefasst, unerschrocken. Eine Menschenmenge hat sich versammelt. Er spricht zu ihr. Von seinem Manifest erwähnt er kein Wort, so hat er es versprochen, keine Anstiftung mehr zur Rebellion gegen Bern. Dafür prangert er die soziale Ungleichheit an, ruft alle auf, auf teure Prozesse gegeneinander zu verzichten, bittet, öffentliche Gelder für die Hilfe an Bedürftige zu verwenden und plädiert für ein gottesfürchtiges Leben – so zumindest nach dem Wortlaut seiner Rede, die Frédéric César de la Harpe 1805 veröffentlicht.

Von seinem Tod erhofft er sich eine Signalwirkung für eine moralische Erneuerung der Gesellschaft. Ist nicht auch Christus als Einzeltäter zum Tod verurteilt worden?

Seine Mitmenschen sehen in ihm wohl einen Spinner, un illuminé. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts wird Davel zum Nationalhelden der Waadt. Das Denkmal wird 175 Jahre nach seinem Tod erreichtet. Trahi par les siens, il mourut décapité à Vidy, au bord du Lac Léman, steht in einer Broschüre mit Stadtspaziergängen von Lausanne Tourisme. Wurde er verraten? Kein Treueschwur verband die Zeitgenossen mit dem Major. Davel hat auch niemanden darum gebeten.

Die verbleibende Zeit in Lausanne verbringen die meisten von uns im Musée d’histoire. In diesem Gebäude residierten seinerzeit die Fürstbischöfe, die mit ihren detaillierten Vorschriften das Leben der Bevölkerung und die Märkte regelten – Zünfte gab es nicht in der fürstbischöflichen Stadt. Ein Modell zeigt die Stadt im 17. Jahrhundert, es beruht auf einem Stadtplan von 1638 und dem Grundbuchplan von 1723, dem Todesjahr des Majors. Auf dem Stadtmodell können wir unseren Stadtspaziergang zurückverfolgen. Die Stadt hat sich seither ausgebreitet, und die Sehenswürdigkeiten ausserhalb der Altstadt verdienen weitere Besuche.