Gibt es in der Schweiz eine Stadt, deren Einwohnerzahl sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt hat?
Bulle hatte 2020 rund 24,700 Einwohnerinnen und Einwohner, im Jahr 2000 waren es erst rund 11,300. Die Fusion mit der Vorortsgemeinde La Tour-de-Trême anfangs 2006 ist nur für einen kleinen Teil dieser Zunahme verantwortlich.
Wer mit dem Zug in Bulle ankommt, steigt an einer Baustelle aus. Gerade wird der Bahnhof an einem anderen Standort neu gebaut, und daneben gleich noch Wohnungen für 7000 neue Bulloises et Bullois.
Vor dem alten Bahnhof, der auch modern ist, empfängt die Statue eines Stiers die Menschen, die in der bullischen Stadt ankommen.
Unsere kleine Gruppe geht ein paar Schritte und gelangt zur ersten Bäckerei, und schon geht es um Traditionen. Im Herbst, zum Fest Bénichon, isst man in Bulle wie auch anderswo im Freiburgerland la cuchaule, ein Brot aus Zopfteig mit Milch und Safran.
Um die Ecke ein weiterer Ort mit Tradition. Im Café Fribourgeois (erbaut 1898-99) steht seit 1913/14 ein Orchestrion, ein Musikautomat, der mit gelochten Papierstreifen ein programmiertes Orchester mit Piano, Flöten, Geigen, Xylophon und allerlei Schlaginstrumenten ertönen lässt. Kaffee gibt es auch.
Nicht weit davon das Restaurant du Cheval Blanc, Hauptquartier der Bauernrevolte von 1781, damals mit dem Namen L’Epée Couronée. Das Freiburger Patriziat, gegen das der Aufstand gerichtet war, liess das Wirtshausschild zerstören. Das neue Schild zeigt zwar einen Schimmel, aber ein gekröntes Schwert ist elegant in das neue Schild integriert und zeigt gegen Freiburg.
Eine andere Integrationsübung galt dem Uhrturm des 1836 abgerissenen Stadttors Tour du tocsin: man baute ihn samt Uhr auf einem Haus gegenüber dem Gasthof wieder auf.
Weitere Stationen unseres Rundgangs sind die Markthallen, der Marktplatz mit seinem Musikpavillon, und schliesslich die Statue des Bauernführers Nicolas Chenaux (1740-1781) auf einem 1933 errichteten Brunnen. Nach seinem gewaltsamen Tod entwickelte sich ein Reliquienkult um seine Gebeine, gegen den der Bischof von Lausanne einschreiten musste.
Mit dem Segen der Kirche fanden dafür die Wallfahrten zur Kapelle Notre-Dame de Compassion statt, einer Kapelle, die den Brand von 1805 überstanden hat mit ihrem barocken Altar und einigen Votivtafeln.
Bevor wir im Musée gruérien die für die Region typischen Bilder der Alpaufzüge und -abzüge (poya, rindya oder désalpe) betrachten können, promenieren unversehens mit Treicheln und Blumen geschmückte Kühe auf der Grand-Rue. Die Städter sitzen in den Cafés und nehmen die désalpe-Vorstellung wohlwollend zur Kenntnis. Das Gläschen Weisswein für den Senn darf nicht fehlen.
Das Museum gibt einen vollständigen und trotzdem kurzweiligen Einblick in die Kultur und die Geschichte des Greyerzerlandes. Man sollte für den Besuch genügend Zeit reservieren. Während Sophia Loren in Greyerz nicht fehlt, hoffe ich allerdings umsonst auf einen Hinweis auf Jean-Marie Musy (1876-1952).
Der im nahen Albeuve geborene Politiker und militante Antikommunist wird 1919 Bundesrat, tritt 1934 wegen Meinungsunterschieden zurück, bleibt politisch aktiv und einflussreich und produziert 1938 den damals teuersten Schweizer Film zusammen mit Gesinnungsfreunden in Deutschland: Die rote Pest. Sein Privatsekretär Franz Riedweg macht Karriere als Arzt, SS-Obersturmbannführer und Vorsteher der Germanischen Leitstelle, die Ausländer für die Waffen-SS rekrutiert.
Über Musy und seine Beziehungen hätte ich gerne mehr erfahren. Musy wurde nach seinem Tod zwar nicht geköpft und gevierteilt wie Chenaux, aber eine Art damnatio memoriae gab es auch in seinem Fall.
Nach einer Mittagspause fahren wir mit der Schmalspurbahn nach Gruyères. Natürlich sind wir nicht die einzigen, die an diesem sonnigen Samstagnachmittag zum malerischen Städtchen hochsteigen.
So wie Bern einen Bären im Wappen führt und Bulle einen Bullen, so trägt Gruyères einen Kranich (la grue) im Wappen. Die Grafen von Greyerz sind Vasallen der Grafen und späteren Herzöge von Savoyen – das erklärt deren Motto FERT auf der Wappenscheibe. Sie sind auf der siegreichen Seite in den Burgunderkriegen. 1548 wird die Grafschaft zugewandter Ort der Eidgenossenschaft, 1554 ist sie bankrott, die Städte Bern und Freiburg teilen sich das Gebiet. Im 19. Jahrhundert kauft eine Genfer Industriellenfamilie das Schloss.
Sie gestaltet es um, lässt einen “Rittersaal” mit historischen Szenen bemalen, lädt Künstler ein, die ihre Spuren hinterlassen, darunter Camille Camille Corot (1796-1875).
Das gruselige Mittelalter ist deswegen im Schloss kaum präsent, dafür gibt es Gruseliges aus dem 20. Jahrhundert in der HR Giger-Bar, in der wir unseren Besuch in Greyerz abschliessen.